Heimat und Identität: Der Heimat auf der Spur – Fünf Überraschungen

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Bloggewitter: Heimat und Identität1. Überraschung: Heimat?!?
 
Zunächst einmal habe ich in mich hineingehorcht und festgestellt: Das Wort Heimat gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Ich würde nicht sagen "Hier ist meine Heimat" oder so etwas wie "hier fühle ich mich heimisch". Zu Hause, ja schon. Heimat eigentlich nicht. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Aber offensichtlich scheint dieser Begriff für viele Menschen durchaus Wichtigkeit zu besitzen. Also Grund genug, sich dessen mal ein wenig anzunehmen.
Was fällt mir spontan zum Thema Heimat ein?
Heimatverein – erinnert mich an Fußball und Fußball gehört nicht zu meinen Interessensgebieten.
Heimatmuseum – diese kleinen Museen, die es auch in den hinterletzten Winkeln gibt, und obligatorischer Bestandteil jedes Schulausflugs. Zumindest als Kind fand ich die ausgesprochen langweilig.
Heimatfilm – Noch vor Verein und Museum mein persönlicher Inbegriff von Seltsamkeit: Seltsame Menschen in (für mich) seltsamer Kleidung erleben seltsame Dinge, was sie sehr oft dann auch noch singend tun. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, was weiter entfernt ist von meiner Lebenswelt als das.
Vielleicht haben diese Dinge dazu geführt, dass ich mich nie weiter mit diesem Begriff beschäftigt habe. Das kann ich ja nun ändern.
 

Heimat – für manchen bedeutet das auch, auf dem Weg zu sein. Quelle.
2. Überraschung: Heimat als deutsche Idee
 
Es ist nicht nur bei Leitkultur, Kindergarten oder Gemütlichkeit unmöglich, es geht auch nicht bei Torschlusspanik, Katzenjammer und Zeitgeist. Der Begriff Heimat gilt im Englischen ebenfalls als eigenständiges deutsche Konzept, was sich nicht ohne Weiteres in andere Sprachen übertragen lässt. (Weitere wundervolle Beispiele für solche fremdsprachlichen Konzepte finden sich in dem Buch They have a word for it von Howard Rheingold; eine erheiternde Diskussion zum Thema findet sich hier). Zu sehr ist der Begriff mit der kulturellen deutschen Identität verknüpft, wie Applegate in A Nation of Provincials – The German Idea of Heimat schreibt (1990, S. 4):

For the term Heimat carries a burden of reference and implication that is not adequately conveyed by the translation homeland or hometown. For almost two centuries, Heimat has been at the center of a German moral—and by extension political—discourse about place, belonging, and identity."

Und weiter: "The term Heimat, one could argue, has entered into so many different discussions in such diverse areas of German society that it would be a great mistake to search for a solitary meaning, a single truth beyond all the white noise. And yet the ubiquity of the term and the deep emotionality of its appeal have proven irresistible temptations to interpreters in search of an essence for which Heimat is the expression. Their results have not always been enlightening (ebd.).

Wie man der Autorin entnehmen kann, waren diese Bemühungen wohl auch deshalb selten erhellend, weil sie eher einem verbalen Aufeinanderdraufhauen ähnelten als dem Versuch, der Sache tatsächlich auf den (Bedeutungs-)Grund zu gehen.
 

3. Überraschung: Das war ja mal ein Neutrum…

Bei der Frage, was denn nun Heimat bedeutet, lohnt sich ein Blick in die Herkunft des Wortes. Heimat stammt wie Himmel und auch Hemd vom altdeutschen ham ab, was so viel wie "decken" bedeutet und letztlich in allen Fällen den Schutz von etwas Wertvollen meint (Silberzahn-Jandt 2009). So weit so gut. Doch das Spannende an der Geschichte: Die Heimat war zunächst ein Das.

Im Zuge der Industrialisierung machte das Wort Heimat im alltäglichen Sprachgebrauch als Signifikant (zunächst) eine substantivische Geschlechtsumwandlung zum weiblichen durch; aus das Heimat wurde die Heimat. Damit verbunden änderten und erweiterten sich auch seine Signifikanten: War die Natur noch eine Gefahrenquelle, vor der das Heimat als Schutz diente, so wurde Natur im Zuge ihrer fortschreitenden und hauptsächlich männlichen Beherrschung nunmehr Teil der neuen, weiblichen Heimat. Die Beherrschung der Natur hatte zur Entfremdung von ihr geführt, und in der modernen bürgerlichen Konzeption von Heimat – als das Gegenteil des Fremden – sollte diese Entfremdung wieder aufgehoben werden. Die Heimat wird vorindustriell" (Bausinger 2000, S. 72 zit. n. Silberzahn-Jandt 2009, S. 2 f.).

Heimat wird zum Gegenpunkt zu Moderne und Industrialisierung und „ festgemacht an der unbeschädigten und friedlich-harmonischen Natur" (Bausinger ebd.) Und "friedlich-harmonisch" ist nun einmal angeblich typisch weiblich.
 
Ein Bremer Garten
Wenn ich es mir recht überlege, auch ein Stück Heimat: Ein Bremer Garten.

4. Überraschung Auch Stuttgart 21 eine Frage der Heimat?

Immer wieder kommen sich politisch gewollte Großprojekte und Heimatgedanken in die Quere. So lassen sich dem Soziologen Ortwin Renn nach auch die Proteste gegen Stuttgart 21 als eine Form der Angst vor Heimatverlust sehen (Faltin & Reidt 2010). Dahinter steht eine interessante Frage: Wie viel Veränderung verträgt die Heimat, damit es weiterhin eine Heimat bleibt? Oder anders herum: Inwieweit darf sich Heimat verändern und trotzdem als Heimat bestehen bleiben?
 
Der Stuttgarter HBF von Osten gesehen.
Der Stuttgarter Haupt-bahnhof von Osten gesehen. Quelle.
Und welches Recht haben die Menschen, die Heimat Heimat nennen, eigentlich an dieser Heimat? Haben sie ein Recht darauf, mitzuentscheiden, wie diese Heimat gestaltet wird? Wenn ja, in welcher Form? Wenn nein, mit welcher Begründung?
Diese Fragen tauchen nicht nur im Zusammenhang mit Stuttgart 21 auf. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Olympiabewerbung von München und auch in der Atomdebatte spielt die Heimat eine Rolle, zum Beispiel dann wenn sich Anwohner gegen einstürzende Salzstollen und andere unsichere Endlager wehren. Es lassen sich sicher noch andere Beispiele für diese Heimatkämpfe finden. Und hier wird es sicherlich auch in Zukunft mehr Fragen geben als Antworten.
5. Überraschung Heimat: dies und das und noch viel mehr
 
Und was ist das denn nun, die Heimat? Hab ich doch zunächst gedacht, dass das etwas mit einem Ort zu tun haben muss – von dem man kommt, in dem man ist- sage ich jetzt: Das kann so sein. Muss aber nicht. Es können auch viele Orte sein. Oder es können ganz andere Lebensbereiche sein: die Religion, der Beruf, vielleicht sogar ein Onlinespiel. Denn:

Heimat ist ein Lebensraum, in dem die Bedürfnisse nach Identität, Sicherheit, Aktivität und Stimulation erfüllt werden, ein Raum, den sich die Menschen aktiv aneignen und gestalten, den sie zur Heimat machen und in dem sie sich einrichten können“ (Langenbucher 1983, S. 257).

Lebensraum kann hier viel weiter gefasst werden als die tatsächlichen örtlichen Begebenheiten, in denen wir uns bewegen. 

Und Katja Schwab schreibt in ihrem Blogbeitrag:

Psychologisch ist die Bezeichnung ‘Heimat’ assoziiert mit drei menschlichen Grundbedürfnissen: dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit, Einbindung und Anerkennung (sense of community), dem Bedürfnis nach Beeinflussung, Gestaltung und Handlungsmöglichkeit (sense of control) und dem Bedürfnis nach Sinnstiftung, Vertrautheit und einbettenden Erzählungen (sense of coherence).

Heimat ist also nicht etwas was irgendwie mit uns geschieht. Heimat ist das Ergebnis eines aktiven Prozesses. Und diesen Prozess entwickeln wir in vielen Fällen gemeinsam mit anderen Menschen. Heimat ist in erster Linie ein sozial-emotionales Konstrukt. Und damit viel mehr als bloß ein Ort. Peter Sandmeyer schreibt in einem Artikel zu der Frage "Was ist Heimat?":

Die Erinnerung gehört dazu, die ins unterbewusste Gedächtnis eingebrannte Mischung aus Geschmack, Geruch, Geräuschen, der Duft von Bratwurst und Rotkohl auf dem Küchentisch, das grelle Gelächter der Möwen im Himmel, der Schrei der Bussarde, die hohen Wolken, die Luft, die nach salziger See riecht, nach Autoabgasen oder dem Morgennebel über herbstlichen Wiesen. Heimat ist Weißwurst und Weizenbier, der Dialekt der Kindheit, das Klopfen der Skatkarten auf dem Wirtshaustisch, die Lieblingsmusik der Eltern, das Gutenachtgebet, der Geruch von Lebkuchen und Weihnachtsbaum im Wohnzimmer und das Aroma der Sonntagsbrötchen.

Und da die Erinnerung an die Menschen, mit denen all diese Eindrücke verbunden sind.
 
Oder, um es mit einem Tweet zu sagen, der mich letztens über Twitter erreichte:
 
"Heimat ist da, wo du fehlst, wenn du nicht da bist."
Applegate, Celia (1990). A Nation of Provincials: The German Idea of Heimat. Berkeley: University of California Press. Online hier (zuletzt eingesehen 10.10.2010). – Dieses Buch sei allen empfohlen, die sich für die geschichtliche Entwicklung des Heimatsbegriffes in Deutschland interessieren.
Bausinger, Hermann (2000). Typisch Deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen. München 2000.
Faltin, Thomas & Erik Reidt (2010). Die Angst vor dem Heimatverlust. Interview mit Prof. Dr. Ortwin Renn. Stuttgarter Zeitung online vom 06.03.2010. Online hier (zuletzt eingesehen 10.10.2010).
Langenbucher, Wolfgang R. (1983). Kulturpolitisches Wörterbuch, BR Deutschland / DDR im Vergleich. Stuttgart: J. B. Metzler.
Rheingold, Howard (1988). They have a word for it – A lightharded lexicon of untranslatable words and phrases. Louisville: Sarabande Books Inc.
Sandmeyer, Peter (2004). Was ist Heimat? Online hier (zuletzt eingesehen 10.10.2010).
 
Lizenzen:
Schiff, Stuttgarter Bahnhof: Creative Commons Attribution 1.0 Generic.
Garten: eigenes Bild.

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Veröffentlicht von

Simone D. Wiedenhöft - Diplom-Psychologin, Beraterin für Kommunikation in nachhaltiger Form und bald auch Doktorandin zum Thema - interessiert sich gemeinhin für das, was Menschen umtreibt und dazu und vor allem für das, was Menschen wachsen lässt. Hier denkt sie nachhaltig nach über alles, was im Entferntesten mit Nachhaltigkeit zu tun hat, und findet die Psychologie der kleinen und großen Dinge viel zu spannend, um sie dabei links liegen lassen zu können. Kontakt: sustain.o.brain (at) lern.ag

5 Kommentare

  1. Heimatlied für Männer

    Ich finde Ihre Betrachtungen von “Heimat” ja sehr schön. Wie mussten in der Schule einmal eine Erörterung über dieses Thema schreiben, gefragt waren nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile, wie “Spießigkeit” etc. Deshalb kann ich folgenden Satz auch nicht recht nachvollziehen: “Heimat wird zum Gegenpunkt zu Moderne und Industrialisierung und „ festgemacht an der unbeschädigten und friedlich-harmonischen Natur” (Bausinger ebd.) Und “friedlich-harmonisch” ist nun einmal angeblich typisch weiblich.”

    Wieso sollte “Heimat” etwas mit “typisch weiblich” zu tun haben? Sieht die “männliche” Variante von Heimat so aus (man beachte den Schluss des Songs)?
    http://www.youtube.com/watch?v=kVUZuVZWHkk

  2. @alle

    @Blume Oh wie schön, herzlichen Dank 🙂

    @Mona
    Leider kann ich mir das Video momentan nicht ansehen, das werde ich nachholen, sobald ich eine bessere Verbindung habe. Vorweg schoneinmal: Zunächst ging es um den Wechsel von einer neutralen Heimat zu einer weiblichen. So ein Wechsel des Geschlechtes ist eine sehr spannende Geschichte und passiert in der Sprache nicht einfach so, sondern geht vermutlich mit einer Veränderung des konzeptionellen Rahmens, hier dem von Heimat, einher. Ich muss dieses Konzept (friedlich-harmonisch = weiblich) bzw. den Gedankengang (Heimat = friedlich; friedlich = weiblich; also Heimat = weiblich)vom Inhalt her nicht teilen, allerdings kann ich die dahinter stehende “Logik” durchaus nachvollziehen. Das mag eine Erklärung sein, warum Heimat irgendwann weiblich geworden ist, über die “männlichen Aspekte” sagt das erstmal nichts aus.
    Aber ich bin gespannt, was das Video zu dem Punkt beitragen kann 🙂

    @Alex Im Zusamenhang mit Heimat wird durchaus diskutiert, ob Heimat nicht vielleicht immer gerade dort ist, wo man nicht ist. D. h. ob Heimat vielleicht nur durch die Entfernen und die daraus ausgelöste Sehnsucht besteht… Wer weiß? 😉

  3. Tipp zum Heimatbegriff

    Zur Klärung des Heimatbegriffs gehört gewiß eine intensive Betrachtung der Heimatverbände (Ostpreußen, Schlesien, Pommern), wenn wir uns das aktive Verbandsleben der ostdeutschen Heimatverbände in über 60 Jahren Heimatpflege ansehen. Haben diejenigen, die dort Mitglied sind, 2 Heimate, dort, wo sie oder nur noch ihre Eltern herstammen, und dort, wo sie im Alltag verwurzelt sind? Das empfinde ich als interessante Frage, die der Kärung bedarf.

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