Das Ende der Psycho-Pharmazie?

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Dem biologischen Paradigma der Psychiatrie zufolge lassen sich psychische Erkrankungen auf Stoffwechselstörungen im Gehirn zurückführen. Aufgrund mangelnder Erfolge in der Behandlung dieser Erkrankungen ziehen sich nun mehrere Pharmaunternehmen aus dem Geschäft zurück.

Es heißt immer wieder, auf der ganzen Welt würden hunderte Millionen Menschen an psychiatrischen Erkrankungen leiden. Manchmal ist sogar davon die Rede, sie stellten nicht nur für die Betroffenen und deren Familien eine schwere Last dar, sondern würden durch den bedingten Arbeitsausfall auch der gesamten Volkswirtschaft einen enormen Schaden zufügen. Gründe für die Therapie dieser Leiden gibt es also mehr als genug. Denkt man an die Milliardengewinne, die beispielsweise die als selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bekannten Antidepressiva in die Kassen von Konzernen wie Eli Lilly spülten, überrascht eine Meldung in der aktuellen Ausgabe von Science: Bedeutende Pharmaunternehmen stellen ihre Investitionen in diesem Bereich ein.

Der internationale Pharmakonzern GalxoSmithKline (GSK) habe bereits im letzten Jahr mit den Planungen begonnen, seine beiden neurowissenschaftlichen Zentren in Harlow, Vereinigtes Königreich, und Verona, Italien, zu schließen. Der Firmenchef habe gegenüber Analysten und Investoren erklärt, die Erfolgswahrscheinlichkeit auf Gebieten wie Angststörungen und Depressionen sei sehr gering, die Entwicklungskosten demgegenüber unverhältnismäßig hoch. Allein bis 2012 erhoffe man sich dadurch schon eine Ersparnis in Höhe von 387 Millionen Dollar (rund 293 Millionen Euro). Auch der Konzern AstraZeneca würde Forschungszentren in den USA und Europa schließen, die sich mit der Entwicklung von Medikamenten für Schizophrenie, bipolare Störung, Depressionen und Angststörungen beschäftigten.

Das eigentliche Problem seien jedoch nicht diese Schließungen. Thomas Insel, Direktor des National Institute for Mental Health in den USA, fasst die Lage wie folgt zusammen:

Es gibt sehr wenige neue Moleküle, sehr wenige neue Ideen und beinahe nichts, das hoffen ließe, die Behandlung psychischer Erkrankungen zu transformieren. (Tom Insel, Übers. S.S.)

Verglichen mit der großen Nachfrage nach wirksamen Psychopharmaka seien die Angebote für viele verbreitete Erkrankungen unbefriedigend. Für Alzheimer-Demenz gebe es keine wirklich effektive Behandlung; Medikamente für andere Erkrankungen wie Depressionen seien nur begrenzt wirksam, hätten aber substanzielle Nebenwirkungen.

Nachfrage wächst, Angebot sinkt?

Angesichts dieser Lage würde man eigentlich mehr Investitionen in die Entwicklung von Medikamenten für psychische Erkrankungen erwarten. An anderer Stelle ist schließlich oft von der alternden Gesellschaft die Rede, die auch zur Zunahme psychiatrischer Erkrankungen führe. Riskieren die Unternehmen, die nun ihre Entwicklungsabteilungen schließen, in Zukunft ins Hintertreffen zu geraten?

Der Bericht in Science nennt mehrere Faktoren, welche diese Entscheidungen beeinflusst haben könnten. Die Zeit, in der Pharmakonzerne Riesengewinne mit ihren Medikamenten schöpfen können, ist durch den auslaufenden Patentschutz zeitlich begrenzt. Danach dürfen Konkurrenten eigene Medikamente mit dem Wirkstoff herstellen und zu einem wesentlich günstigeren Preis anbieten. Allein von 2009 bis 2012 würden im Bereich der Psychopharmakologie Patente für Substanzen mit einem Marktvolumen von zusammen 28,2 Milliarden Dollar (rund 21,3 Milliarden Euro) auslaufen. Daraus folgt, dass es eine Obergrenze gibt, bis zu der sich für die Unternehmen die riskanten Investitionen lohnen. Angesichts steigender Entwicklungskosten ist dieser Punkt wohl nun für einige Unternehmen zumindest im Bereich psychiatrischer Erkrankungen überschritten.

Dabei hätten die Unternehmen noch einiges in der Schublade. Beispielsweise verfüge GSK zurzeit über 27 zentralnervös wirkende Substanzen, die auf den Markt gebracht werden sollen. Die Erfolgsrate betrage bei Psychopharmaka aber gerade einmal 8,2 Prozent, verglichen mit rund 20 Prozent für onkologische oder immunologische Medikamente und etwa halb so hoch wie im gesamten pharmazeutischen Bereich. Rechnerisch würden es von den 27 entwickelten also gerade einmal zwei auf den Markt schaffen. Demgegenüber stehe eine mit insgesamt 8,8 Jahren deutlich höhere Entwicklungs- und Zulassungszeit. Zum Vergleich: Für cardiovaskuläre oder AIDS-Medikamente betrage diese nur 6,9 beziehungsweise 5,8 Jahre.

Auch wenn die Psychopharmazie nicht völlig am Ende ist, scheinen sich die Zeiten zu ändern. William Potter, früherer Vizepräsident für Neurowissenschaft beim Pharmariesen Merck, schwärmt noch von den 1980er und 90er Jahren. Damals habe man Milliarden damit verdienen können, bereits zugelassene Medikamente wie die SSRIs ebenfalls für eine andere Indikation zugelassen zu bekommen.

Neben dieser Strategie versuchten sich die Unternehmen auch in verschiedenen Maßnahmen der Kostenreduktion. GSK und AstraZeneca hätten beispielsweise in China Entwicklungszentren eröffnet, um Medikamente für Multiple Sklerose, Parkinson und Alzheimer-Demenz zu entwickeln. Inwiefern diese Strategie auch für psychische Erkrankungen gelten könnte, die eine starke kulturelle und soziale Dimension aufweisen, ist eine offene Frage. Außerdem setze man in Zukunft auch auf mehr Zusammenarbeit mit akademischen Wissenschaftlern, welche die Forschung im Anfangsstadium übernehmen könnten. Mir stellt sich vor allem die Frage, warum der Erfolg im Bereich der Psychopharmakologie eigentlich so gering ist. Unter Geldmangel dürfte die Branche in den letzten Jahrzehnten jedenfalls nicht gelitten haben. Hat man vielleicht nicht am rechten Ort gesucht?

Quelle: Miller, G. (2010). Is Pharma Running Out of Brainy Ideas? Science 329: 502-504.

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17 Kommentare

  1. Der rechte Ort

    Vielleicht war’s doch der rechte Ort. Denn immerhin hat man ja einiges gefunden. SSRI’s z.B. Und daß jetzt die Kosten-Nutzen-Relation ein bißchen ungünstig wird, liegt womöglich eher daran, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

    Das ist ja bei den kognitiven und verhaltenstherapeutischen Interventionen auch nicht anders.

    Wo sollte der rechte Ort auch sein? Shangri-La? Gibt es nicht.

    Oder man hält es mit James Joyce. “Da würde ich doch lieber zur Beichte gehen”, war seine Anwort, als man ihm vorschlug, eine Psychoanalyse zu machen.

  2. @ Bolt: SSRIs

    Ich persönlich kenne die Wirkung von SSRIs nicht, habe aber die neuere Literatur zur Kenntnis genommen, in der sie kritisch gesehen wird, und in dem Science-Bericht heißt es ja nun, vgl. mein indirektes Zitat oben, wörtlich: “…for others, like depression, the existing drugs have limited efficacy and substantial side effects.”

    Denken Sie nicht, dass das zumindest die Fragen aufwirft, ob man überhaupt mit den richtigen Methoden oder am richtigen Ort oder mit den richtigen Konzepten arbeitet?

  3. Neurologie-Psychiatrie-Kluft?

    Sehr schöner Artikel!

    Allerdings ist mir an manchen Stellen nicht ganz klar, ob hier der Science-Artikel zitiert wird,
    oder Sie Fragen/Kommentare aufwerfen.

    Z.B.:

    “Inwiefern diese Strategie auch für psychische Erkrankungen gelten könnte, die eine starke kulturelle und soziale Dimension aufweisen, ist eine offene Frage.”

    Stellen Sie diese Frage, oder wird dies im Artikel aufgeworfen.

    Ich finde dies spannend.

    Am Ende läuft in meinen Augen alles darauf hinaus, ob es eine Kluft zwischen Neurologie und Psychiatrie gibt oder nicht.

    Ich war 2009 auf einen vom NIMH (National Institute of Mental Health) organisierten Symposium Mentale über “Dynamische Krankheiten”. Es wurden dann aber fast nur neurologische Krankheiten in Vorträgen besprochen, also solche die in die Sektion des NINDS gehören (National Institute of Neurological Disorders and Stroke).

    Warum? Mein persönlicher Eindruck war, dass wir bei mentalen Zuständen (krankhafte oder auch normale) immer nur (und im besten Fall) neuronale Korrelate kennen, also Gehirnaktivitäten, die mit mentalen Prozessen einhergehen, ohne dass dies einen kausalen Zusammenhang impliziert.

    Wenn dem so ist, wie können wir dann an Therapien g e z i e l t forschen?

    Bei neurologischen Krankheiten kennen wir die ursächliche fehlschlagene neuronale Aktivität (zumindest teilweise) sehr genau. Oder diese kann zumindest in Studien untersucht werden, denn wir haben Modelle dazu, die es zu verstehen gilt.

    Falls dies (also bestenfalls Korrelate vs. profunde Kenntnis fehlschlagende Netzwerkaktivität) eine echte Kluft zwischen Neurologie und Psychiatrie definiert, dann kann ich den Pessimismus der Pharmakonzerne verstehen.

  4. @ Dahlem: Gute Frage

    Wo ich den Artikel wiedergebe, habe ich versucht, das im Konjunktiv zu tun; und meines Erachtens habe ich das Konsequent durchgehalten. Am Ende habe ich dann in der Tat noch im Indikativ meinen eigenen Kommentar bzw. meine eigenen Fragen hinzugefügt, da es mir nicht reichte, nur die Science-Meldung zu wiederholen.

    Mit dem Verweis auf das Verhältnis von Neurologie und Psychiatrie werfen Sie eine gute und spannende Frage auf. Historisch war es meines Wissens beispielsweise so, dass die Epilepsie lange Zeit als psychiatrische Erkrankung galt, bis man mithilfe von EEG-Messungen Genaueres über die damit verbundenen Hirnprozesse erfahren konnte. Dann haben sich Neurologen der Epilepsie angenommen. (Tatsächlich spielt EEG doch bei der Diagnose einer Epilepsie eine Rolle; demgegenüber ist mir keine psychiatrische Erkrankung bekannt, die man durch eine neurowissenschaftliche Untersuchung diagnostizieren würde).

    Ließe sich das Verallgemeinern, dann hätten es Psychiater wohl oder übel mit Erkrankungen zu tun, deren Ursachen und neurobiologische Prozesse undeutlich sind. Dafür, dass sie unter diesen schwierigen Umständen den Menschen helfen möchten, haben sie auf jeden Fall meinen Respekt verdient. Ich glaube, ich selbst könnte das nicht.

  5. SSRI’s

    Die konkrete Diskussion über SSRI’s kenne ich vermutlich viel weniger als Sie. Soweit ich sie verfolgt habe, veranlaßt sie mich aber nicht zu dramatischen Schlußfolgerungen. Ich denke nicht, daß von der Anwendung von SSRI’s gegenwärtig abgeraten werden muß.

    Persönlich habe ich Erfahrungen mit drei psychoaktiven Substanzen: Koffein, Alkohol, Nikotin. Die Wirkung der letzten schätze ich, die anderen beiden nehme ich hin, weil sie nunmal in Tee bzw. Wein enthalten sind. Also, mein erster Punkt zum Thema: es gibt Psychopharmaka.

    Mein zweiter Punkt: Was wäre denn eine mögliche Alternative? Ich weiß, Sie favorisieren in Diskussionen den Catenaccio, okay. Aber diesmal fehlt mir die Phantasie, neben dem pharmazeutischen und dem verhaltenstherapeutischen noch einen dritten rechten Weg aufindig zu machen. Können Sie ausnahmsweise mal einen weiteren Offensivspieler auf den Platz schicken?

  6. @ Bolt: Psycho-Therapien

    Ich favorisiere, was den Menschen hilft; ich habe kürzlich ein Papier gelesen, in dem zahlreiche Ansätze aufgezählt wurden, von denen ich noch nicht mal etwas gehört hatte, die aber einige Patienten zu bevorzugen scheinen. Es scheint also neben dem Mainstream viele Alternativen zu geben.

    Eine Faustregel, die ich mal in der Psychiatrie aufgeschnappt habe, war, dass Psychopharmaka einem Drittel der depressiven Patienten besser helfen als Placebo, einem Drittel genauso gut und einem Drittel gar nicht.

    Der jüngeren Diskussion zufolge schneiden sie bei Depressionen insgesamt gar nicht besser ab als Placebo, wenn man in die Meta-Analysen Daten hinzuzieht, die nicht publiziert wurden (Nullfunde werden leider oft nicht publiziert; Stichwort publication bias). Das war, wenn ich mich recht entsinne, Anfang 2009.

    In Gehirn&Geist hatte Jochen Paulus Anfang dieses Jahres einen Artikel unter der Überschrift Überschätzte Glücksbringer in Gehirn&Geist, der diese Diskussion aufgreift. Lesen Sie die Zeitschrift etwa nicht? 😉 Von der ausführlichen Meta-Analyse eines Bekannten (Antidepressants for neuroenhancement in healthy individuals: a systematic review) weiß ich zudem, dass sie im Mittel auch bei gesunden Personen keinen stimmungssteigernden Effekt zeigen.

    Ich bin kein Pharmakologe; aber sagen Sie mir doch, was ich davon halten soll?

    Von den Untersuchungen zu Koffein und Nikotin weiß ich, dass die Ergebnisse sehr heterogen sind; es gibt sogar Pharmakologen, die behaupten, man würde mit Koffein primär den Leistungsausfall ausgleichen, der durch Koffeinentzug entstehe. Als ich mit dem Rauchen aufhörte, war das sogar eine schlaue erwiederung eines Klassenkameraden auf meine Aussage, ich würde mich durchs Rauchen besser fühlen; er frug zurück, ob ich mich damit nicht bloß wieder so gut wie vorher fühlte.

    Dass Alkohol (und auch die anderen Substanzen) in größeren Dosen auf die Psyche wirken, bestreite ich gar nicht; ebenso kann ein Schlag gegen den Kopf auf die Psyche wirken; eine Lebensmittelvergiftung; oder ein Spaziergang. Die Frage ist eben, was sie bewirken und von Medikamenten erwartet man, dass sie Leiden lindern oder Krankheiten heilen. Darum ging es ja primär in diesem Post.

    Mir ist übrigens der Begriff des advocatus diaboli bekannt, dessen Rolle ich in der Tat manchmal einnehme, doch einen Catenaccio kenne ich nicht; mein Fremdwörterlexikon auch nicht.

  7. Catenaccio

    Haben Sie kein Internet?

    http://de.wikipedia.org/wiki/Catenaccio

    Ich dachte, man versteht das, jetzt wo Fußball Pop geworden ist. Was ich sagen wollte: soweit ich Sie kennengelernt habe, hinterfragen Sie lieber Positionen als sie zu beziehen.

    Was Sie von SSRI’s halten sollen, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe den Überblick verloren, als die verschiedenen Schweregrade ins Spiel kamen, also ziemlich zu Anfang. Und jetzt warte ich ab, bis die Fachleute darüber eingehender diskutiert haben und mit belastbareren Ergebnissen an die Öffentlichkeit treten.

    Ihre Anregung, Psychotherapie stärker zu individualiseren, stimme ich zu. Hier spielt vermutlich auch ein oberflächlicher Umgang mit Statistik eine Rolle. Wenn eine Therapie 99% der Patienten nicht hilft, 1% aber schon, dann sollte dieses eine Prozent die ‘unwirksame’ Therapie auch bekommen und nicht den Mainstream.

    Hierzu paßt vielleicht der lesenswerte Aufsatz von Stephen Jay Gould, in dem es zwar nicht um Therapie, aber um die existentielle Wichtigkeit der Randbereiche von Verteilungen geht: ‘The median is not the message’:

    http://www.cancerguide.org/median_not_msg.html

  8. … Marktpotential und Strategie

    Hallo,

    Eine interessante Darstellung, vor allem hinsichtlich Vielschichtigkeit. (Wirklich) so ganz ne-benbei bemerkt, mit einem verbissenen „Lächeln“, möchte ich hinsichtlich der Effizienz oder der Beweisführung zur „Wirksamkeit“ kurz an die Diskussionen um den Beitrag Homöopathie der große Bruder des Placeboeffektes erinnern … ich möchte hier jedoch ausdrücklich vermeiden, von den Konsequenzen des oben aufgeführten Beitrags abzulenken!

    Die (Ab)Gründe des Pharmamarktes sind bodenlos. Vielleicht haue ich auch nur wieder in die bekannte Wunde, dass es in Sachen Pharmaforschung (wie auch in vielen Bereichen der praktizierenden Medizin) hauptsächlich darauf ankommt, was Gewinne in Aussicht stellt, oder erzielt. Und es genügt offensichtlich bereits auslaufende Patente, um das Interesse zu verlieren, … von wirklicher Weiterentwicklung ganz zu schweigen. So verfalle ich immer wieder in die (fast schon aggressiv-depressiv anmutende) Frage: Was wäre, wenn die so genannte Gesundheitsindustrie die Menschen tatsächlich „gesund“ machen würde?

    In Sachen „Psyche“ mit all ihrer Anfälligkeit verbreitet sich ja durchaus die Erkenntnis bei einigen behandelnden Ärzten (und Therapeuten), dass die alleinige Behandlung (oder Therapie) des „Erkrankten“ nur dann Erfolg zeigt (und sei es „nur“ hinsichtlich der Anzeichen einer „positiven“ Veränderung), wenn auch das Umfeld (soziale Umwelt) mit Therapiert wird. Es kann also offensichtlich nur der „seinen Frieden“ (er)leben, wenn es dem „Nachbarn“ ebenfalls gefällt.

    Hinzu kommt, dass immer wieder übersehen wird, dass die Pharmakologie nur ein (angesichts der offensichtlichen Sachlage ein zwiespältiges) Hilfsmittel im Gesundungsprozess ist. Das mag wohl auch darin begründet zu sein, immer wieder Korrelation und Kausalität verwechselt oder gar missbraucht wird, wenn es um eine „Beweisführung“ in Sachen Wirksamkeit und den daraus resultierenden Gewinnmöglichkeiten geht. Die richtige „Medizin“ ist eine ganz individuelle Sache, und dieser Umstand ist absolut kontraproduktiv, wenn es um Pharmamärkte geht und um Patienten (kranke, hilfsbedürtige Menschen!), die ihrem „Marktpotential“ ausschliesslich als Kunden gesehen und auch genauso „behandelt“ werden!

    Gänzlich hilflos und (bildlich gesehen) völlig Nackt zeigt sich die Medizinforschung, wenn es darum geht, erst einmal die Grenzen zwischen Gesund und Krank (vor allem in Sachen Psyche) zu definieren, oder beide Seiten erst einmal zu klären … oder einfach Erkenntnisse darüber zu erlangen, was einen Menschen gesund erhält oder wieder gesund werden lässt. Bisher, so habe ich den Eindruck, sind Krankheit oder Gesundheit auch nur eine Sache von Marktpotentialen und Gewinnstreben!

    mfG

  9. @Median und Message

    Es ist ein beliebter Trick, eine erfolglose Studie (sprich: keine interventionsbedingten Effekte im Mittel) so zu lesen, dass ein gewisser Prozentsatz profitiert habe, der Rest jedoch nicht. Das ist m.E. Blödsinn.

    Um einen kausalen Effekt zu prüfen/zu sichern, zählt nur der nachgewiesene Mittelwertsunterschied. Existiert dieser nicht, existiert kein Effekt – auch in keiner Subgruppe.

    Natürlich kann man eine NEUE Hypothese aufstellen und behaupten, dass die Intervention nur unter bestimmten Voraussetzungen wirke – diese Hypothese muss jedoch in einer NEUEN Studie mit unabhängigen NEUEN Patienten durchgeführt werden. Und wieder geht es dann um den Effekt auf den Mittelwert.

    Veränderungen gibt es individuell immer – diese sind aber als solche kausal nicht auf die Intervention rückführbar.

    In die gleiche Richtung noch eine weitere Anmerkung: Kürzlich hörte ich von Studien zu den Faktoren, die bei ca. 10% der Psychotherapiepatienten dazu führen, dass es ihnen 1 Jahr nach der Therapie schlechter gehe als vor der Therapie. Wieder derselbe Fehlschluss: Solange keine Daten unbehandelter Patienten mit vergleichbarer Problematik vorgelegt werden, sind die Verschlechterungen bei 10% der Patienten KEIN Effekt der Psychotherapie – nur der Mittelwertsunterschied in der Gesamtstichprobe ist ein Effekt der Behandlung – und dieser ist meist positiv. Nebenwirkungen der Psychotherapie i.S. einer Verschlimmerung der Symptomatik kann ich nur im Vergleich mit unbehandelten Patienten ermitteln.

    Überhaupt: Ihr schöner Beitrag, Herr Schleim, ist eine Aufforderung, sich der ziemlich guten Ergebnisse der Psychotherapieforschung zu erinnern, die in den Psychiatrien bzw. von Medizinern m.E. bis heute nicht hinreichend zur Kenntnis genommen werden.

  10. @Christian Hoppe

    Sie haben vollkommen recht, und ich hätte mich deutlicher ausdrücken müssen. Gut, daß Sie das jetzt klargestellt haben.

  11. @ Hoppe: Therapienpluralismus

    Danke für Ihren methodischen Hinweis, den ich schätze; allerdings hatte ich Herrn Bolt anders verstanden:

    Natürlich ist es beim Hypothesenthesen unter einer bestimmten Nullhypothese nicht zulässig, im Nachhinein die Untersuchung auf diejenigen Versuchspersonen einzuschränken, für die sich die Nullhypothese zurückweisen lässt, sprich, die einen Therapieeffekt aufweisen, auch wenn im Mittel kein Effekt zu finden war. Allein aufgrund der statistischen Streuung wird es fast immer solche Versuchspersonen geben. Tatsächlich wäre so eine “Auswahl” eine Fälschung von Daten, wenn man sie verschweigt.

    In der Diskussion ging es doch eher darum, dass es einzelne Patienten geben kann, bei denen eine bestimmte Therapie, die vielleicht allgemein nicht hilft, eben doch hilft. Letztlich argumentieren die Mediziner, die den Ansatz einer personalisierten Medizin vertreten, genauso. Theoretisch kann ich darin keinen Fehler entdecken und ich will auch niemandem vorschreiben, welche Therapien für ihn/sie geeignet sind; der Standard sollte sein, was den Menschen hilft und natürlich gelten auch Kosten-/Nutzenabwägungen (denenzufolge übrigens inzwischen gar viele Krankenversicherer nicht mehr auf Homöopathie verzichten wollen).

    Dass ich persönlich daran zweifle, dass man beispielsweise die Wirksamkeit von Antidepressiva erhöhen könne, indem man nur genug über die Gene der Menschen wüsste (Bsp. der personalisierten Med.), steht auf einem anderen Blatt.

  12. @ Bolt

    Haben Sie kein Internet?

    Nein, dank der neuesten Bemühungen unseres Webmasters Martin Huhn blogge und kommentiere ich nun telepathisch.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Catenaccio

    Hatte ich mir zusätzlich zu meinem Fremdwörterbuch schon angeschaut; hatte mich aber nicht erleuchtet.

    soweit ich Sie kennengelernt habe, hinterfragen Sie lieber Positionen als sie zu beziehen.

    Wieso? Ich beziehe doch ganz deutlich diejenige Position, dass ich mich damit zurückhalte, eine andere Position zu beziehen, bevor ich sie hinreichend hinterfragt habe.

  13. Psychopharmaka

    – was wird benötigt? Neuroleptika sind die einzigen Medikamente, die Schizophrenen ein fast normales Leben ermöglichen können (und auch die einzig effektive therapeutische Maßnahme). Johanniskraut ist nachgewiesenermaßen in den meisten Fällen das wirksamste und bekömmlichste Antidepressivum. Darüber hinaus werden für bestimmte Indikationen Benzodiazepine benötigt, und das war´s. Die restlichen Psychopharmaka sind unnötig, in aller Regel sogar schädlich und nützen nur dem Hersteller; es wäre schon schön, wenn sie nicht mehr hergestellt würden.
    Habe ich eine wichtige unersetzliche Medikamentengruppe vergessen?

  14. Neuronale Plastizität

    Du stellst in deinem Artikel eine wichtige und interessante Frage.

    Mir stellt sich vor allem die Frage, warum der Erfolg im Bereich der Psychopharmakologie eigentlich so gering ist.

    Ich denke es liegt an der neuronalen Plastizität des Gehirns. Nicht nur, dass man sozusagen auf ein sich bewegendes Objekt zielt, sondern es ist auch so dass man durch die Psychopharmaka das Objekt in Bewegung bringt (mehr oder weniger). Ich denke Psychopharmaka können eine Behandlung in manchen Fällen mehr oder weniger sinnvoll begleiten, aber der Kern der Therapie muss immer eine psychotherapeutische Behandlung (mit mehreren Sitzungen) durch einen Psychiater sein. Psychopharmaka können z.B. nur die Symptome einer Depression bekämpfen nicht die Ursache. Vielleicht wurde in der Vergangenheit immmer die (falsche)Hoffnung genährt, dass Pillen schlucken allein hilft.

  15. @ Joe

    Was ist dann deiner Meinung nach “die Ursache”? Und muss es wirklich ein Psychiater sein, kein Psychologe, der die Therapie durchführt?

  16. Ursache einer Depression

    Eine Scheidung, der Tod eines geliebten Menschen,z.B.

    Die Ursachen/Auslöser einer Depression sind individuell verschieden. Was den einen nicht juckt kann für den anderen traumatisch sein. Ich will nicht leugnen, dass es auch organische Ursachen einer Depression gibt.

    Es muss kein Psychiater sein es geht auch mit einem Psychologen. Aber ab einem bestimmten Schweregrad der Krankheit würde ich eher einen Psychiater empfehlen, weil diese für solche Fälle besser ausgebildet sind.

  17. @ Joe: Psychiater

    Aber ab einem bestimmten Schweregrad der Krankheit würde ich eher einen Psychiater empfehlen, weil diese für solche Fälle besser ausgebildet sind.

    Hmm, das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Allenfalls institutionell würde ich dir zustimmen, dass es in der Psychiatrie eher die Möglichkeit einer stationären Behandlung gibt, wie sie bei einem schweren Fall in der Tat nötig sein könnte, sowie meines Wissens der Psychiater gegenüber dem Psychologen auch die Möglichkeiten hat, 1) jemanden krank zu schreiben und 2) begleitend medikamentös zu behandeln (sollte z.B. die vorübergehende Gabe eines Beruhigungs- oder Schlafmittels erforderlich erscheinen).

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