Neuroethik in Japan

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Im fernöstlichen Japan ist die Sonne rot, wie sich schon an der Nationalflagge erkennen lässt. Welche anderen kulturellen Unterschiede gibt es aber, die den Umgang der Menschen mit den Technologien der Hirnforschung beeinflussen? Diese Frage ist nicht nur eine Reise, sondern auch einen Blog-Beitrag wert.

Die Ansammlung von Inseln, über die sich das Land erstreckt, öffnete sich erst vor ca. 150 Jahren dem Rest der Welt, nachdem früherer Handel mit den Europäern zu inneren Unruhen geführt und sich Japan daraufhin für lange Zeit von den äußeren Einflüssen abgeschirmt hatte. In dieser Periode hat es Japan aber zur führenden wirtschaftlichen Kraft Asiens gebracht und muss auch den internationalen Vergleich nicht scheuen. Traditionelle Werte wie die hierarchisch strukturierte Familie oder die Loyalität zum Arbeitgeber werden durch jüngere Veränderungen in der Weltwirtschaft untergraben und immer mehr junge Menschen lösen sich so von den herkömmlichen Rollenvorstellungen, die früher lebenslange Sicherheit versprachen.

JapanDennoch ist Japan eine Leistungsnation geblieben. Interessant ist dabei, dass japanische Studenten im Gegensatz zu ihren US-amerikanischen Kommilitonen weniger auf Pharmakologie zu setzen scheinen, um ihre Studienleistungen zu verbessern. Das Problem des „cognitive Enhancements“ – manchmal wird es auch schlicht als „Mind Doping“ bezeichnet – ist daher weniger relevant als in anderen Ländern; und das, obwohl die Aufnahmeprüfungen in Japan im Gegensatz zu den USA zu 100% darüber entscheiden, ob ein Student an einer Universität genommen wird oder nicht. Bei den SAT-Tests US-amerikanischer Colleges, bei denen manche glauben, man könne mit dem Medikament Ritalin eine bessere Leistung erzielen (dafür gibt es allerdings keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege), entscheidet das Ergebnis nur zu 30% über Aufnahme oder Ablehnung. Vielleicht schmeckt den kulturellen Nachfahren der Samurai die Vorstellung nicht, sich im Konkurrenzkampf auf Pillen zu verlassen – dabei haben interessanterweise schon vor langer Zeit Zen-Mönche eine rituelle Teezeremonie eingeführt, deren stimulierendes Gebräu die Konzentration für die anschließende Meditation verbessern sollte, ohne den Geist zu vernebeln.

Außerdem sind in Japan so genannte GABA-Schokolade sowie Dr. Kawashimas Brain Training sehr beliebt. Erstere soll durch Zuführung des Neurotransmitters GABA (Abkürzung für Gamma-Aminobuttersäure) die neuronale Kommunikation verbessern, letzteres durch fleißiges Üben von Denkspielen an einer Konsole die neuronalen Verschaltungen optimieren. Das Brain Training erfreut sich übrigens auch in Deutschland großer Beliebtheit, auch wenn es hier Gehirn-Jogging heißt. Es ist allerdings fraglich, ob die Verbesserungen, die sich durch die Software selbst messen lassen, wirklich auf generelle Veränderungen des Gehirns zurückführbar sind oder sie nicht vielmehr dadurch zustande kommen, dass die Anwender Fortschritte im Umgang mit den Programmen machen. Aber auch hier gilt: Eindeutige wissenschaftliche Belege für die Schokolade oder das Konsolenspiel finden sich nicht.

Japan #2 UTCPWenn man an andere konkrete ethische Probleme denkt, beispielsweise die Organtransplantation, gibt sich das Land der aufgehenden Sonne traditionsbewusst: Eine Organspende setzt nämlich nicht nur die Einwilligung des Spenders, sondern auch die der Familie voraus. In diesem Sinne hat also die Familie ein triftiges Wörtchen dabei mitzureden, was mit dem Körper eines sterbenden Angehörigen geschieht. Müsste man sich daher auch die Verwendung eines Dopingmittels für die Psyche von der Familie gestatten lassen? Um diese und ähnliche ethische Probleme zu untersuchen, wurde an der Tokyo Universität kürzlich mithilfe von Regierungsmitteln ein Programm für „Gehirn und Ethik“ gegründet, das am University of Tokyo Center of Philosophy angesiedelt ist. Dabei sticht das Projekt für Allgemeinbildung in Neurowissenschaften – „Neuroscience Literacy“ – besonders hervor: Philosophen haben die Aufgabe, für Studierende aller Fachrichtungen und die Gesellschaft insgesamt darüber Aufklärungsarbeit zu leisten, was sich mit den Methoden der Hirnforschung alles machen lässt – und was davon man wirklich tun oder lassen sollte. Dabei trauen sich die Philosophen auch durchaus, kritische Meinungen zu vertreten, wie sich in der Stellungnahme des Direktors erkennen lässt:

Unter dem oberflächlichen und extrem unausgeglichenen „Wohlstand“, steht die Menschheit einer ernsthaften „Krise“ gegenüber. Diese Krise ist so ernsthaft, dass man sich die Frage stellen muss, ob wir es einfach eine „Krise der Menschheit“ nennen können, oder sie als etwas noch größeres untersuchen müssen. (Yasuo Kobayashi, Direktor des UTCP)

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2 Kommentare

  1. Sind Japaner kritischer?

    Ihr Beitrag lässt vermuten, dass Japaner mit wissenschaftlichen Ergebnissen kritischer umgehen, als wir Europäer.Ist das so? Der Beitrag macht neugierig auf mehr ;-))

  2. Bei Stimulation stimmt’s schon…

    Was die Anwendung von Transcranieller Magnetstimulation (TMS) oder Transcranieller Gleichstromstimulation (TDCS) betrifft, wird das dort tatsächlich restriktiver von den Ethikkommissionen gehandhabt als bei uns.

    Streng genommen wäre das aber ein kritischer Umgang mit wissenschaftlichen Verfahren und nicht so sehr mit den Ergebnissen.

    Immerhin haben sie uns Deutschen aber ein “Neuroscience Literacy Projekt” voraus, sofern Sie Ihre Blogs nicht schon als solches ausweisen möchten.

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