Migräne, Epilepsie und Schlaganfall im Google Ngram Viewer

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Eine erste Suche nach den Worthäufigkeiten von "Migräne", "Epilepsie" und "Schlaganfall" im Google Ngram Viewer und ein Vergleich mit Häufigkeit und Kosten dieser neurologischen Krankheiten.

Mit dem Google Ngram Viewer kann die Häufigkeit von Wörtern sowie Wortketten in einem Korpus (ein Auszug aus GoogleBooks) ermittelt werden. Der Häufigkeitsverlauf wird dann über die Jahre angezeigt, wobei der Zeitraum bis ins 16te Jahrhundert zurückreicht, wenn man denn soweit zurück suchen möchte. Die ermittelte Worthäufigkeit wird normiert indem durch die Gesamtwortzahl des entsprechenden Jahres geteilt wird.

Das erste Wort, das ich im Ngram Viewer eingab, war natürlich "Migräne".


Ein Klick in dieses und folgende Diagramme führt direkt zur entsprechenden Suchanfrage in größer Darstellung und mit vielen weitere Suchmöglichkeiten.

Oben sehen wir die Worthäufigkeit für "Migräne" von 1850 bis 2008. Das erste was mich erstaunte war das lokale Maximum um 1900. Zu diesem Zeitpunkt erhalten wir einen Wert von 0.00014%. Dieser Wert fällt bis 1930 ab auf 0.00004%, dies halbiert sich sogar noch um 1970 auf ein Minimum bei 0.00002% und das vorangegangene Maximum wird erst wieder um 2000 erreicht und steigt seitdem stetig zu neuen Höhen um den Wert 0.0002% auf.

Mein Blogthema liegt also im Trend. Was aber sagen uns diese Zahlen?  Die erhaltenen Worthäufigkeiten sollte man kritisch sehen. Einige Probleme wurden z.B. im Blog Schplock von Kristin Kopf  beschrieben. Und doch ist ein erster Blick auf diese Daten interessant.

Die Worthäufigkeit reflektiert sicher nicht die Krankheitshäufigkeit (Prävalenz), weder über die Jahre noch relativ zu anderen Krankheiten. Vergleichen wir Migräne (blau) zum Beispiel mit Epilepsie (rot) und Schlaganfall (grün). 


"Migräne" (blau), "Epilepsie" (rot) und "Schlaganfall" (grün) von 1850 bis 2008.

Die Prävalenz in Deutschland liegt laut 2005 veröffentlichten Daten [1] für Migräne bei 7 122 928 Erkrankungen, für Epilepsie bei 494 931 und für Schlaganfall bei 199 900.  "Schlaganfall" aber eben auch "Migräne" kommen als Wörter dagegen viel seltener vor als "Epilepsie".

Auffällig ist sofort das gleiche lokale Maximum auch in der relativen Worthäufigkeit von "Epilepsie" zwischen 1870 und 1930. "Schlaganfall" kommt dagegen nicht gehäuft in diesem Zeitraum vor. Allerdings wird dieses Wort wiederum nur kurzzeitig in dem Zeitraum um das lokale Maximum um 1900 von "Migräne" übertoffen. Diese Verschiebungen der Relationen scheinen interessant. Doch sind es nur einzelne Jahrespeaks die "Migräne" kurzzeitig noch oben bringen, wenn wir uns diese Daten ohne die Mittellung über ein Zeitfenster von ±4 Jahren in diesem Zeitraum ansehen. Dies könnte vielleicht auf einzelne, wenige Publikationen in den Jahren 1894, 1899 und 1903 hindeuten. Zum Beispiel die Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten von Paul Julius Möbius aus dem Jahr 1894.

Die Worthäufigkeit von "Epilepsie" übertrifft die von "Migräne" um 1900 sogar um mehr als vierfache. Das ist eine klare Differenz. Die Prävalenz von Epilepsie ist im Gegensatz dazu um mehr als 14 mal geringer als die von Migräne (ich übernehme hier die Zahlen aus dem Jahr 2004, da eine Zeitabhängigkeit in der eigentlichen Prävalenz nicht zu erwarten ist, wohl aber in der Diagnosehäufigkeit).

Vergleich "Migräne" mit "migraine"

Vergleichen wir diese Daten mit einem englischen Korpus fällt auf, dass es zwar auch ein lokales Maximum gibt. Nun aber eher um 10 Jahre verschoben, also um 1910. Das ist aber nicht der wesentliche Unterschied.

Der Trend vom Zeitraum 1850 bis heute ist gekennzeichnet durch ein fast stetiges Anwachsen der Worthäufigkeiten für "migraine" (blau) und "epilepsy" (rot). Nur ein kurzer Einbruch von 1915 bis 1930 ist zu verzeichnen. Ab 1930 steigen dann die Worthäufigkeiten und saturieren erst ab Mitte der 1980er Jahre. Für "migraine" liegt der aktuelle Wert bei 0.0003% , also um 50% höher als der aktuelle Wert für "Migräne" von 2008, welcher allerdings bisher nicht absehbar saturiert.


"migraine" (blau) und "epilepsy" (rot) von 1850 bis 2008.

Dieser Trend im englischen Korpus findet sich ähnlich in dem Unterkorpus English Fiction


Wie oben nur im Unterkorpus English Fiction.

Dort fällt jedoch sofort in Auge, dass ab 1990 die Worthäufigkeiten für "migraine" und "epilepsy" geradezu rapide wieder absinken.

Warum wird in der englischsprachigen Belletristik Migräne und Epilepsie als Thema, und sei es nur als Randerscheinung, in den letzen 20 Jahren plötzlich gemieden? Oder anders gefragt, warum wurde diese Themen um 1990 so populär? Diese Fragen müssen erst einmal offen bleiben.

Zumindest können wir aber vielleicht davon ausgehen, dass es als Gegentrend einen weiteren Anstieg der Worthäufigkeiten für "migraine" und "epilepsy" im Bereich non-fiction gibt, in der Sach- und Fachliteratur also, so dass nur im Schnitt die Werte ab Mitte der 1980er Jahre saturieren. 

Krankheitskosten

Eine vielleicht nicht gerade naheliegende dafür aber interessante weil falsche Annahme ist, dass die Worthäufigkeit die Bedeutung für die Gesellschaft widerspiegelt. Nun ist die Bedeutung einer Krankheit für eine Gesellschaft kaum zu messen. Stattdessen können aber leichter Gesamtkosten einer Krankheit ermittelt werden, die neben der Prävalenz zumindest indirekt ein Maß für die Bedeutung sind.

Migräne, Schlaganfall und Epilepsie wählte ich, weil diese die Hitliste bezüglich der Kosten neurologischer Krankheiten anführen. Und zwar genau in dieser Reihenfolge*. Die jährlichen Kosten für Migräne in Deutschland belaufen sich auf 6.1€ Milliarden, dicht gefolgt von Schlaganfall mit Gesamtkosten von 5.9€ Milliarden und mit etwas mehr Abstand von Epilepsie mit 3.8€ Milliarden [1]. Die vielleicht zunächst überraschend hohen Kosten sind überwiegend indirekte Kosten durch Arbeitsausfall.

Andere Quellen nennen zwar geringer Kosten, z.B. von 3.7€ Milliarden Euro für Migräne. Letztlich ist aber sowieso nur die Größenordnung entscheidend. Bei Studien, die alle neurologischen Krankheiten erfassen [1], können wir zumindest die Reihenfolge als verlässlich voraussetzen. Zumal nicht unerwähnt bleiben sollte, dass in [1] für Epilepsie und Schlaganfall direkte aber nicht-medizinische Kosten, z.B. für Fürsorge, Transport, Wohnumfeldverbesserung und weiteres einkalkuliert wurden, für Migräne diese aber nicht einbezogen wurden.

Die Krankheitskosten variieren sicher stark über lange Zeiträume. Sowohl Behandlungskosten als auch Arbeitsausfall waren um 1900 geringer als heute. Die erwähnten Kosten stammen aus dem Jahr 2004 und so lohnt nur ein Blick auf die Worthäufigkeit in einem Zeitraum um dieses Datum als Vergleich. Ich gehe allerdings zurück bis 1978 um den Trend in den letzten 30 Jahren zu erfassen.


"Migräne" (blau), "Epilepsie" (rot) und "Schlaganfall" (grün) von 1978 bis 2008.

Für die Worthäufigkeiten im Deutschen bietet Google leider noch keine Möglichkeit zwischen Belletristik und Sachliteratur zu differenzieren. Wie dem auch sei, die Worthäufigkeiten aller drei Krankheiten steigen ab 1990 deutlich gemeinsam an.  Bei diesen Anstieg scheint Migräne sich langsam den Rang zu erkämpfen, der dieser Volkskrankheit laut Prävalenz und Krankheitskosten in der öffentlichen Aufmerksamkeit zusteht.

Link

Diesen Beitrag einfach verlinken:

http://goo.gl/lE1A6

Dank 

Mein Dank an den  Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch über dessen Nachbarblog Sprachlog ich durch den Beitrag Anglizismus des Jahres: Jury und Modalitäten auf das neue Google-Spielzeug aufmerksam wurde.

Fussnote

*Demenz führt die Liste der Kosten neurologischer Krankheiten mit jährlich 11.6€ Milliarden in Deutschland an. Allerdings ist nicht klar wie diese Kosten in Bezug zu den erhöhten Kosten gesetzt werden müssen, die in einer älter werdenen Gesellschaft ohne Erkrankungen entstehen [2]. Trotzdem auch hier der Vergleich in den Worthäufigkeiten.


"Migräne" (blau), "Demenz" (rot) von 1978 bis 2008.

Literatur

[1] Andlin-Sobocki P, Jönsson B, Wittchen HU, Olesen J. Cost of disorders of the brain in Europe. Eur J Neurol.12:1-27 (2005)

[2] Jönsson L, Berr C., Cost of dementia in Europe. Eur J Neurol., 12:50-53 (2005)


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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

21 Kommentare

  1. @ Dahlem

    Ich frag’ mich, ob und welchen Sinn es hat, sich bar jeder Kontextanalyse mit diesen Daten zu befassen – bestenfalls würden ich sie als Hinweise für (zeitliche) Einstiegspunkte in die Kontextanalyse gefallen lassen.

    Gib’ mal in den englischen bzw. deutschen Korpus “Menstruation” (Obacht: case sensitive!) ein – die deutschen Damen bluteten in der Literatur um 1820 besonders heftig, die anglophonen Ladies aber erst um 1880.

    Was sagt mir das, wenn ich keine Kontextanalyse mache: Genau. Gar Nichts.

  2. Macht Spaß, nicht wahr.

    Menstruation im Google Ngram Viewer. Macht Spaß, nicht wahr.

    Nun zu Deiner Kritik, Helmut. Als eine erste Suche nach den Worthäufigkeiten kann ich dass doch aufführen, oder? Ich sehe diese Daten durchaus auch kritisch, gerade die lokalen Maxima.

    Ich habe versucht verschiedene Korpora, die mir durch Google Ngram zur Verfügung standen, nebeneinander zu stellen. Auch habe ich z.B. versucht, Korrelationen in den Jahren 1894, 1899 und 1903 zwischen den Peaks bei “Migräne” und “Epilepsie” zu finden, und da sie anscheinend (zumindest dem Auge nach in 1894, 1903) existieren, denke ich dass, wie ich schrieb, sicher wohl einzelne, wenige Fachpublikationen in diesen Jahren diese Peaks erzeugen. Kurzum, oberflächlich war meine Analyse nicht.

    Ich habe mich aber auch nur einen Tag damit beschäftigt. Eine solide medizingeschichtliche Korpusanalyse steht noch aus. Vielleicht wäre dies sogar wirklich mal interessant und dieser Beitrag wäre dann sicher nicht mehr als ein Einstiegspunkt.


    Noch eine Nachtrag

    Eine Vermutung, die einen Kontext herstellt – und die ich für wahrscheinlich halte – will ich noch nachtragen: Der Anstieg um 1875 kann wahrscheinlich durch das neue physikalische Verständis der elektrophysiologischen Prozesse des Gehirns Mitte des 19ten Jahrhundert erklärt werden und damit auch dem wachsenden Interesse an neuartigen Therapieansätzen. Siehe:
    Blitzableiter für Hirngewitter.

  3. @ Markus

    …ja, ich bin moserig, knickerig, übler “Ende-des-Jahres-Laune”, und sowieso auf Google gerade gar nicht gut zu sprechen, seit die diesen “body-browser” (Anatomie für alle) in’s Netz gestellt haben, der mich nur ärgert. Nicht, weil ich “Herrschaftswissen” verlöre, sondern weil ich ahne, dass ich mich in Zukunft auch mit dem Bockmist, den die anatomisch verzapfen, herumschlagen muss.

    Diese “Ngram”-Sache ist ein tolles Spielzeug: ei freilich, ich spielte ja selber damit. Aber bitte: lass’ uns doch mal als (Natur-)wissenschaftler reden:

    – Habe ich Zugriff auf die Originalzitate?

    – In welchem Verhältnis stehen die vergoogelten, digitalen Textmengen zu den zur jeweiligen Zeit tatsächlich verfügbaren Texten? In welchem Verhältnis stehen Texte ÜBERHAUPT zu gesellschaftichen Phänomenen?

    – Impacts? WAS für Texte liegen dem zu Grunde? Zeitungen? Alltagssprachliches? Wissenschaftliches? Belletristisches? Ist Google schon so hybride, zu meinen, die ganze Vergangenheit digitalisiert zu haben?

    – Wortwandel? Was, wenn Sprachmoden folgend, die Migräne eine Zeitlang unter “Kopfpein” liefe?

    Das ist ein Sumpf. Und solange der nicht trockengelegt ist (ich verlange aber gar nicht, dass das geschehe!), halte ich diese Daten für Sumpfblüten – manche mögen sogar witzig sein und zu weiterer Recherche animieren: “DNA” hat imm englischen Korpus einen kleines Hoch um die Wende des 19./20. Jahrhunderts. Hilft mir das “Ngram-Werkzeug” herauszufinden, warum?

  4. unterdiagnostiziert – warum?

    Deine moserig, knickerige Stimmung nehm’ ich Dir nicht krumm. Habe mir aber daraufhin mein “macht Spaß” nicht verkneifen können.

    Es fällt mir aber schwer, Deinem bittenden Anruf “lass’ uns doch mal als (Natur-)wissenschaftler reden” zu folgen. Denn ich kann ja gar nicht anders und rede immer als Naturwissenschaftler. Mehr geht gar nicht. Jedoch ist dieser Text selbst natürlich keine wissenschaftliche Publikation.

    Dies ist ein populärwissenschaftlicher Text, der solide publizierte Daten, also die der Krankheitskosten und Prävalenz, einer simplen Korpusanalyse gegenüberstellt.

    Einige Problem die Du ansprichst, habe ich untersucht. Ich habe zum Beispiel “Epilepsie” und “Fallsucht” und weiteres verglichen, um alternative Bezeichnungen abzuklopfen. Migräne hieß aber nur Migräne (wobei es allerdings vor der ersten Auflage der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen von 1988 gar keine klaren Richtlinien gab, was Migräne überhaupt ist, dies ist aber kein Problem einer Korpusanalyse).

    Die Frage ist, ob Worthäufigkeit eines Krankheitsnamen in einem Korpus etwas über die Stellung dieser Krankheit aussagt. Und wenn ja, was? Das hast Du ja auch gefragt, mit wohl zurecht geschrienen “ÜBERHAUPT”.

    Was die Stellung von Migräne betrifft ist festzustellen, dass Migräne unterdiagnostiziert (und daher auch untertherapiert) ist [3]. Ob dies nun aber in der Korpusanalyse herauszulesen ist, lasse ich erst mal offen. Wenn ja, wäre diese Korrelation ja immer noch keine kausale Relation. Doch liegt der Verdacht nahe, das fehlende öffentliche Aufmerksamkeit (ganz zu schweigen vom Negativimage) diesbzüglich kaum hilfreich ist.

    [3] Sadovsky R, Dodick DW. Identifying migraine in primary care settings. Am J Med. 118:11S-17S. (2005)

  5. @ Dahlem

    Markus,

    ich hab’ ja schon ausgebrummelt, wennschon ich nicht einsehe, wozu diese neue Spielerei von Google gut sein soll, wenn sie mich nicht zugleich an die Quellen heranlässt (Tut sie das? Ich hab’s nicht herausfinden können…).

    Um noch was Positives über die Digitalisierungswut von Google hinterherzuschieben – “google books” ist grossartig. Ich find’ dort die gescannten Originale von uralten Sachen (sogar Vesal und Paracelsus und Bartholin und und und..) und bin hell begeistert, wie sehr das manche Recherche vereinfacht.

    [Antwort:
    Helmut, da stimme ich zu. Schon mehrmals wollte ich dann auch gerne zu den Quellen, gerade wenn ich ein frühes Erscheinen bemerkenswert fand. Vielleicht kommt das ja noch. Ganz nett zu lesen fand ich “Counting on Google Books” von Geoffrey Nunberg mit einigen anderen kritischen Bemerkungen. M.A.D.]

  6. Interessant

    Also Herr Dahlem, mir gefällt Ihr Beitrag sehr. Vielleicht, weil ich keine Naturwissenschaftlerin bin? 😉

    Für die Erkrankung Migräne gab es lange kein Wort. Selbst heute noch wissen viele Betroffene nicht, dass sie Migräne haben und umschreiben ihre Qualen mit allen möglichen anderen Namen.

    Warum ist das so? In dem Dschungel der 251 verschiedenen Kopfschmerzarten blicken ja auch viele Ärzte nicht durch. Selbst jetzt noch wird Medizinstudenten das Thema Kopfschmerzen so ganz nebenbei in Kurzversion zur Kenntnis gebracht.

    Dies ist sicher auch mit der Grund, warum Migränepatienten nach wie vor oft unterversorgt sind. Migräne sieht man dem Betroffenen oft nicht an und man geht davon aus, dass man übertreibt. Dann kommen so Sprüche wie: “Ach Kopfschmerzen hab ich auch immer wieder mal, stell Dich nicht so an!”

    Würde man zu einem Epileptiker sagen, dass er sich nicht so anstellen solle und man selbst auch gelegentlich Zuckungen habe? Auch der Schaganfallpatient wird ernst genommen und umfassend versorgt. Für beide Erkrankungen gibt es eindeutige Wörter, jeder weiß, was gemeint ist und nimmt den Erkrankten ernst. Diesen Stellenwert hat die Migräne noch lange nicht.

    Daher, lieber Herr Dahlem, alles was Sie zum Thema veröffentlichen, ist gut und wichtig.

    Danke! und nun wünsche ich allen Lesern ein gutes Neues Jahr.

    Bettina Frank

  7. Ordnung im Dschungel

    In dem Dschungel gibt es aber auch eine Ordnung, nämlich die oben schon erwähnte Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, die seit 2004 in der zweiten Auflage (ICHD-II) vorliegt.

    Ich zitiere mal aus der ICHD-II Website:

    “Die Klassifikation ist nach einem hierarchischen Prinzip aufgebaut und jeder Anwender muss selbst entscheiden, wie detailliert eine Diagnose im Einzelfall sein soll. […] Die erste Stelle gibt die grobe Orientierung an, in welche Diagnosegruppe der Kopfschmerz gehört. Handelt es sich z.B. um eine 1. Migräne, einen 2. Kopfschmerz vom Spannungstyp oder einen 3. Clusterkopfschmerz bzw. einen anderen trigemino-autonomen Kopfschmerz? Die weiteren Stellen beinhalten dann detailliertere Informationen zur Diagnose. […]” [Hervorhebung durch mich]

    Auf der Ebene der groben Diagnosegruppe der primären Kopfschmerzen gibt es also nur 3 Arten (plus ein Auffangbecken, 4. “Andere primäre Kopfschmerzen”).

    Diese Klarstellung damit man nicht denkt, Migräne sei nur eine von 251 Kopfschmerzarten. Migräne wird auf einer ersten Unterebene in 1.1 bis 1.6 unterteilt. Und diese Ebene wird weiter (allerdings war es das dann, eine vierte Ebene gibt es bei Migräne nicht) unterteilt. Zum Beispiel 1.2 Migräne mit Aura in sechs Subformen 1.2.1-1.2.6.

    Bedenkenswert ist auch, dass sich so eine symptombasierte Klassifikation durch neuere Erkenntnisse ändern kann und letztlich eine ätiologische Klassifikation für die klinische Diagnostik erstrebenswert ist. Aber das ist dann Thema eines neuen Blogbeitrages.

  8. Ordnung im Dschungel? Nicht ganz…

    Sie haben ganz recht, dass die IHS Ordnung in diesem Dschungel geschaffen hat und diese Ordnung wurde dringend benötigt.

    Trotz dieser sinnvollen Klassifikation dauert es oft auch heutzutage noch viele Jahre, bevor Migräne eindeutig diagnostiziert werden kann. Clusterpatienten sind noch ärmer dran. Viel wertvolle Zeit geht verloren, bevor Migränepatienten einer effektiven Therapie zugeführt werden können. Das ist einfach traurige Tatsache.

    Bettina Frank

  9. Auf die Spur im Dschungel bringen

    So eine Ordnung hilft natürlich nur, wenn sie auch Anwendung findet. Leider ist Migräne in der Tat unterdiagnostiziert und daher auch untertherapiert.

    Dabei konsultieren Betroffene oft mehrere Ärzte. Es ist also nicht so, dass Migräne unterdiagnostiziert ist, weil es keinen Therapiebedarf gibt. Bleibt Migräne un- oder falsch therapiert, treten wieder andere Folgen auf. Hierzu gab es dieses Jahr ein Review dessen Abstrakt ich auch noch mal zitieren will [4]:

    “Migraine is a prevalent, disabling, undiagnosed and undertreated disease in neurological practice. It is a chronic, recurrent disorder with episodic manifestations that are progressive in some individuals with clinical, physiological and anatomical bases. Progression may be due to mechanisms generating the migraine attacks or to the activation generated by the attacks. Potentially remediable risk factors for chronification include frequency of migraine attacks, obesity, excessive use of medications, …. [Hervorhebung von mir.]

    Dieser ganze Themenkomplex der medizinischen Komplikationen durch falsche Behandlungen verlässt aber dann doch langsam meinen “Kompetenzbereicht” als Physiker (der nicht mal – zum Glück! – selber unter Migräne leidet). Deswegen noch einmal zum Thema Worthäufigkeit. Aufklärung ist auch auf der Seite der Betroffenen hilfreich, also auch z.B. durch Belletristik. Denn Betroffene müssen nicht die Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen kennen, aber wenn Betroffene ihre Symptome genau beobachten und erkennen, um diese dann auch bei der Anamnese zu nennen, kann dies den Arzt auf die Spur bringen.

    Literatur

    [4] Aguggia M, Saracco MG., Pathophysiology of migraine chronification. Neurol Sci. 31:15-17. (2010)

  10. Bücher in denen Migräne vorkommt

    Ich frage mal in die ganze Runde der Leser: Wer kennt Bücher in dem Migräne erwähnt wird?

    Ich fange mal mit Erichs Kästner’s “Pünktchen und Anton” an. Das fiel mit der Erstausgabe von 1931 in ein Ngram-Tief!

  11. Migräne und Musik

    Außer Kästner (der ja nur abwertend zitiert) würde mir kein anderes Buch einfallen, in dem explizit von Migräne gesprochen wird. Zumindest kann ich mich nicht erinnern. Kopfschmerzen kommen natürlich öfter vor.

    Wagner hatte aber Migräne (er war selbst betroffen) im Ring der Nibelungen zum Thema gemacht, indem sich Mime (im Siegfried) schmerzerfüllt immer wieder den Kopf hält und stöhnt. In der Hamburger Inszenierung von Claus Guth schluckt er sogar eine Menge Pillen.

    Auch bei Rossini in La Cenerentola kommt Migräne vor. Da gibt es noch einige Beispiele.

  12. Alice-im-Dschungel

    Siri Hustvedt hat in ihren Büchern ihre Migräne auch verarbeitet, wobei ich selber nur “What I loved” bisher gelesen habe. Hustvedt hat übrigens auch im “New York Times Migraine Blog” fabelhaft über ihre Migräne erzählt.

    Lewis Carrolls “Alice im Wunderland” könnte man zählen. Wobei hier die Migräne zwar gar nicht als Wort vorkommt, das Buch heute aber namensgebend für das Alice-im-Wunderland-Syndrom ist, d.h. für eine Gruppe von Symptomen bei dem Menschen sich selbst (z.B. Körperschemate-Veränderungen) oder auch ihre Umgebung (z.B. perspektivische Verzerrungen) auf halluzinatorische Weise verändert wahrnehmen. Besser kann man eigentlich solche Symptome gar nicht beschreiben (und Kindern die Angst nehmen).

    Es gibt aber sicher noch einige Beispiele mehr.

  13. spontan 2

    spontan fallen mir nur zwei Krimis ein in denen Migräne erwähnt wird – und ich lese viel, Sünden der Nacht von Tami Hoag – die Hauptfigur hat Migräne und gegen Ende des Buches wird ein Migräneanfall realistisch beschrieben.

    Letzter Tanz von Jeffrey Deaver, eine Pilotin namens Percy hat Migräne “Ein Migräneanfall war so ziemlich das einzige ist was sie vom Fliegen abhalten konnte.”

    Und ich erinnere mich an eine vor einigen Jahren ausgestrahlte Folge von Dr. House mit dem Thema Migräne.

    Aber ich kenne kein Buch in welchem die Hauptfigur Migräne hat, aber es gibt HeldInnen mit Querschnittslähmung, die Neurosen haben, autistisch, blind oder an Krebs erkrankt sind.

    Woran liegt das? Ich denke es sind Krankheiten die entweder durch ihre Fremdartigkeit faszinieren oder Krankheiten die für Gesunde vorstellbar oder nachvollziehbar sind oder vor denen wir Angst haben sie zu bekommen. All das trifft auf Migräne nicht zu. Die meisten von uns leiden heimlich und funktionieren weiter so lange es geht und wenn es richtig übel kommt ziehen wir uns zurück vor der Welt. Sogar Menschen die mich seit mehr als 20 Jahren kennen, wissen nur das ich Migräne habe, weil ich es sage – während einer Migräne gesehen, also auf dem Höhepunkt der Schmerzen, hat mich noch niemand.

    Ich frage mich und das ist nicht provokativ gemeint, welcher der Wissenschaftler die Markus Blog lesen und kommentieren, weiß wirklich was es heißt Migräne zu haben?

    [Am Rande bemerkt:
    Ich hoffe doch sehr, dass auch Laien das Blog lesen und kommentieren. Da es öfter schon Fragen in dieser Richtung gab: dies hier ist gerade nicht ein Bog für Experten und Wissenschaftler, sondern für alle Interessierte, deren Kommentare herzlich willkommen sind! M.A.D.]

  14. Hassenstein, Grüsser, Pöppel …

    Danke für die Nennen der Bücher. Welche Folge war das von Dr. House? Das würde mich sehr interessieren.

    Viele meiner Kollegen leiden selber unter Migräne und haben dazu auch Arbeiten veröffentlicht. Bernhard Hassenstein, Otto-Joachim Grüsser und Ernst Pöppel sind nur einige Namen renommierter Forscher aus Deutschland, die nicht als Kopfschmerzexperten sondern als Neurowisenschaftler sich des Themas angenommen haben.

    Übrigens kommt gerade wieder ein Neues Buch von Oliver Sacks heraus: “Das innere Auge: Neue Fallgeschichten von Oliver Sacks“, ich weiß aber nicht, ob dort auch ein Migränebeitrag vorkommt. Aber im Vorwort findet sich : “Als ich mit der Veröffentlichung von Fallgeschichten begann, 1970 zunächst mit Migräne, erhielt ich Briefe von Menschen, die ihre persönlichen Erfahrungen mit neurologischen Erkrankungen verstehen oder kommentieren wollten.” Das passt also!

    Bin auf weitere Bücher gespannt!

    PS: Jetzt können wir einmal mehr Helmut Wichts Kritik oben an Google verstehen, denn wenn wir vom Ngram Viewer direkt zu den Büchern kämen, könnte wir besser nachforschen.

  15. Noch ein Buch…

    Jetzt fällt mir noch ein Buch ein, in dem Migräne vorkommt: “Und Nietzsche weinte” von Irvin D. Yalom. In diesem fiktiven Roman, der aber reale Figuren wie Nietzsche, Freud, Breuer beschreibt, versucht der Arzt Breuer Nietzsche von seiner Migräne zu befreien.

    Oliver Sacks ist super und das neue Buch werde ich mir kaufen.

    @ Alex: Ich kann Ihnen voll zustimmen. Als selbst Betroffene habe ich mich meistens sogar für meine Erkrankung geschämt. Musste ich wieder mal eine Verabredung absagen, führte ich meist sogar andere Gründe an, wie z.B. Magen-Darm-Virus, Fieber oder Ähnliches. Eine Absage wegen “Kopfschmerzen” wird immer noch oft als reine Ausrede angesehen und nur schlecht toleriert.

  16. Episoden Guide

    *haha* bei Wiki gibt es sogar einen Episodenguide zur Serie…. Meine Erinnerung hat mich betrogen, Migräne war damals nur die Nebenhandlung.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Dr.-House-Episoden#Staffel_2:_2005.E2.80.932006

    2. Staffel, 2005 – 2006, Titel: Resultate mit Geduld, Erstaustrahlung in DE 05.02.2007

    “Folge 2×12 Resultate mit Geduld … | Distractions

    Regie: Daniel Attias
    Drehbuch: Lawrence Kaplow

    Ein junger Mann mit schweren Verbrennungen wird eingeliefert und seine Bluttests zeigen seltsame Ergebnisse. Das Ärzteteam muss nun kreativ sein, um herauszufinden, wie der Patient getestet werden kann, bevor er stirbt. House macht sich derweil durch inoffizielle Tests zu seinem eigenen Versuchskaninchen, um einem ehemaligen Kollegen zu beweisen, dass dessen neues Mittel gegen Migräne nicht wirkt. Mit schmerzhaften Folgen…”

  17. Kann sein dass ich hier etwas völlig falsch verstehe, aber der Ngram Viewer bietet doch in Kombination mit Google Books durchaus die Möglichkeit mehr herauszufinden:

    Unter http://ngrams.googlelabs.com/graph?content=Migr%C3%A4ne&year_start=1890&year_end=1920&corpus=8&smoothing=0 sieht man, dass das lokale Maximum der geglätteten Daten um 1900 aus einzelnen Jahren herrührt (1894, 1899, 1903).
    Hier http://www.google.com/search?hl=de&tbs=bks:1,cdr:1,cd_min:01.01.1894,cd_max:31.12.1894&tbo=p&q=Migr%C3%A4ne&num=10&lr=lang_de findet man dann für 1894 beispielsweise das Buch “Die Migräne” von Paul Julius Möbius. Für 1899 habe ich auf die Schnelle kein ähnlich prägnantes Einzelwerk gefunden, für 1903 findet man eine spätere Ausgabe desselben Buches.

    Es könnte also sein, dass dieses eine Buch direkt oder indirekt einen großen Anteil am Maximum um 1900 hat. Mit ein wenig mehr Aufwand (z.B. indem man sich die Rohdaten von hier http://ngrams.googlelabs.com/datasets anschaut) könnte man vermutlich mehr herausfinden.

  18. Google Ngram Viewer und mehr

    Es gibt zwar wirklich die Möglichkeit in Google Books zu suchen, aber wenn ich zum Beispiel den englische Unterkorpus Non-Fiction auswähle, und dann von dort mir ein Zeitintervall (Beispiel migraine in 1990 – 1999) angucke, komme ich doch nur wieder zu allen Google Books Suchresultaten und finde leider nur Sach- und Fachbücher. Also scheint vom Google Ngram Viewer nicht die eigentliche Datenbank erreichbar. Vom englischen Unterkorpus Non-Fiction hätte ich sonst leicht zu Büchern kommen können, die auch in deutsch erschienen sind.

    Wenn es doch noch eine andere Möglichkeit gäbe, bitte hier mitteilen! Würde mich interessieren.

  19. 34 Autoren und Gott

    Ich will mal die Suche noch etwas erschweren.

    Klaus Podoll hat einmal eine Liste auf unserer Website der Migraine Aura Foundation zusammengestellt, mit 34 Autoren.
    Erich Kästner ist z.B hier, links im Menü (dem Link folgend) die anderen.

    Wer noch weitere kennt, kann dazu beitragen, diese Liste zu vervollständigen. Ich leite das dann gerne weiter.

    Ach ja, und Gott, d.h. die Bibel will ich nicht vergessen, wenn es nur den Begriff Migräne schon gegeben hätte.

  20. Statistik vs. Augen auf…. und Ohren

    Also, mir wäre es egal, ob die Statistiken nicht konsistent sein können – was sie nicht sind.

    Ich würde trotzdem ein Fass aufmachen und dann auf die Reaktionen achten. Aus denen kann man manchmal schlauer werden, als es jede Kurve vermöchte.

    Der steile Anstieg um 1990 ist sicher der medialen Vernetzung (Internet und digitale Datenverarbeitung) mitverschuldet. Deutet aber mindestens auf eine Relevanz des Begriffs hin und ist also erhöht präsent – also bestand ein Problem.

    na, was da so auf uns zukommen kann. Tausende Statistiken in Kurvenform via Google recherchefertig verfügbar – Langeweile kann da nicht mehr aufkommen.

  21. Korrelation Migrände und Ungerechtigkeit

    ich habe mal “ungerechtigkeit” im Ngram Viewer eingetippt und dort erschien eine besondere Häufung um 1880 …

    Vielleicht gibt es hier eine Verbindung zur Ursache von Migräne…?

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