Blitzableiter für Hirngewitter

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Die elektromagnetische Stimulation nimmt ein besonderes Kapitel in der Geschichte der nicht-medikamentösen Behandlung von Kopfschmerzen ein. Von der elektrischen Badewanne bis zum transkraniellen Migräne-Zapper – was ist eigentlich das Neue an den modernen neuromodulierenden Verfahren? 

Zitteraale erzeugen elektrische Stromstöße. Daher war das Auftreten eines elektrischen Schocks auch schon im alten Ägypten bekannt. Doch band man sich zur Schmerzbehandlung vor über 3000 Jahren keinen Zitteraal, sondern ein kleines Krokodil fest auf den Kopf. So steht es in dem berühmten medizinischen Papyrus Ebers. Im Prinzip ein frühes Beispiel für ein sehr einfaches neuromodulierendes Verfahren.

Dass Elektrizität die menschliche Physiologie beeinträchtigt, war spätestens 1750 bekannt als Benjamin Franklin vorschlug, während eines Gewitters einen Drachen steigen zu lassen, um so den Blitz einzufangen und dann nachzuweisen, dass der Blitz ein elektrisches Phänomen sei. Forschung erfordert Mut. Franklin ging mit äußerster Vorsicht vor (ein andere Wissenschaftler starb bei solch einem Versuch) und erfand den Blitzableiter.

Eine wichtige Frage war damals, wie Elektrizität überhaupt produziert werden kann und zwar in gut kontrollierten Maßen und so nutzbar gemacht werden kann u.a. auch medizinisch. Die Anfänge der kontrollierten Stromerzeugung sind untrennbar mit der menschlichen  Physiologie verbunden. Besser gesagt waren diese Anfänge mit der tierischen Physiologie verbunden, um den Gefahren für den Menschen erst einmal aus dem Weg zu gehen.  Man postulierte eine “thierische Elektrizität”  und fragte sich, ob das nur eine gute Metapher war oder ob es nicht wirklich das selbe Phänomen ist, wie die mechanisch erzeugte Elektrizität?

Um Letzteres nachzuweisen führte man ein Experiment öffentlich vor. Die Entladung eines elektrischen Fischs wurde über einen Draht abgeleitet, so war bewiesen, dass es sich nur um eine Stromleitung handeln kann, und dann wieder zurück zu einem in eine Streckvorrichtung eingespannten Froschschenkel, der daraufhin periodisch zuckend eine Glocke mehrfach anschlug. Der Froschwecker war erfunden. Man hat also elektrischen Strom aus meinem Tier über einen metallischen Leiter weiter wieder zu einer tierischen Muskel geleitet. Das kann so nur funktionieren, wenn es nur eine Art der Elektrizität gibt, das Adjetiv “thierisch” wurde überflüssig.

Ohne tierische Zwischenkomponente (ohne den Froschschenkel als Anzeiger) nennt man solch ein Instrument, das den biologisch erzeugten Strom in einem Muskel messen kann, heute Myograph. Johann Halske war bei der Vorführung dabei. Halske gründete zusammen mit Werner Siemens die Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske in Berlin. Der Rest ist Geschichte. Halske baute auch elektromedizinische Geräte. Der Ursprung der Siemens Healthineers geht also auf die Gründungsgeschichte zurück und ist kein neuer Geschäftsbereich auch wenn die meisten historisch bei Siemens eher an die Telegraphen und Energietechnik denken.

Elektrizität wurde damals als Flüssigkeit angesehen. Ein therapeutischer Nutzen der Elektrizität, dass also der Strom nicht nur gemessen, sondern auch zur Stimulation anwendet wird, lag daher gedanklich sehr nah, da damals Gesundheit im Kontext der Humoralpathologie (Viersäftelehre) gedacht wurde. Elektromagnetische Stimulation medizinisch zu nutzen, verlor ihren vordersten Stellenrang erst  mit dem Aufkommen der Pharmaindustrie und erlebt heute eine Renaissance, wobei weitere neuromodulierende Verfahren hinzukommen, wenn wir beispielsweise an das kleine Krokodil aus dem Papyrus Ebers denken. Was es damit auf sich hat, dazu kommen wir noch.

Zum Einsatz kam später, zur Zeit der Aufklärung erst einmal der Zitteraal und andere elektrische Fische. Statt sich jedoch diesen Fisch auf den Kopf zu binden, wie es im Papyrus Ebers als Kopfschmerzbehandlung mittels Krokodil empfohlen wurde, wurde anders vorgegangen. Der Kopfschmerzgeplagte berührte den Fisch mit einer Hand während seine andere Hand an seinem Kopf auflag. Dieses Methode stammt von Scribonius Largus, Leibarzt des römischen Kaisers Claudius 47 n. Chr. Er nutze den schwarzen Torpedofischen (einen Zitterrochenartigen), um Migräne-Kopfschmerzen zu behandeln.

Solche Anweisung an die Patienten kann man als Rezeptur ansehen, eine Arznei, denn solche Stimulationsprotokolle galten als Heilkunst. Von vielen weiteren, etwas neueren aber immer noch historischen “Rezepten” berichten Peter J. Koehler und Christopher J. Boes in der August-Ausgabe (2010) der Zeitschrift Brain in einem Artikel über die Geschichte nicht-medikamentöser Behandlung von Kopfschmerzen insbesondere der Migräne [1].

Der Fisch konnte später durch eine Leidener Flasche, dem Ur-Kondensator zur Speicherung elektrischer Ladung, ersetzt werden. Dies war das Anliegen von Benjamin Franklin. Elektrizität nicht nur zu produzieren, sondern auch in kontrollierten Maßen nutzbar zu machen.

Fliegende Funken versprachen Linderung des Kopfschmerzes. Alternativ begab man sich in eine stromdurchflossene Badewanne. (Bitte nicht zuhause nachmachen.) Etwas sanfter sind elektrisch betriebene Vibratoren mit deren verschiedenen Aufsätzen Bereiche des Kopfs mechanisch und nicht elektrisch gekitzelt werden konnten. Auch darüber berichten Koehler und Boes. Denn auch eine mechanische Einwirkung auf das Nervensystem nennt man Neuromodulation.

Weniger um die Elektrizität oder Mechanik als um den Messvorgang an sich geht es bei den moderneren Biofeedback-Methoden. Ein Gerät aus den Jahr 1976 zur Fingertemperatur-Feedback-Methode kam gegen Migräne zum Einsatz [2]. Eine über der Fingerspitze befestigte Elektrode misst die Hauttemperatur, dessen kleinste Änderungen dann über einen Kopfhörer in eine Klickrate übersetzt und so unmittelbar erfahrbar wird. Es obliegt nun dem Anwender zu lernen, sich durch das gegebene sogenannte Biofeedback kontrolliert zu entspannen. Je entspannter man ist, desto höher die Temperatur im Finger und dies wird durch langsameres Klicken verkündet. Naht nun ein Migräneanfall, so die Idee, hat man zuvor gelernt, sich bewusst zu entspannen und kann sich in diesen Zustand willentlich schnell versetzen und so therapeutisch die Attacke noch abmildern oder gar ganz vermeiden.

Die elektromagnetische Stimulation als Migräne-Therapie hat in diesem Jahr (2010) wieder Aufwind erhalten. Ich berichtete davon in meinem Beitrag “Magnetschlag auf den Hinterkopf” . Mit einem transkraniellen Magnetstimulator, dem Migräne-Zapper, sollen Migräneattacken weggezappt also beendet werden. Das geht so leicht wie ich mit der Fernbedienung ein unliebsames Programm abschalten kann, soll mir der Name suggerieren.

Die Frage, ob elektromagnetische Behandlungen therapeutisch zielführend eingesetzt werden können, ist also neu und sehr alt zugleich. Das neue Potential, welches ich trotz der vielen (historischen) Fehlschläge sehe, beruht für mich weniger in der alten Idee eine elektromagnetische Stimulation zu verwenden. Vielmehr müssen wir darüber nachdenken und eine Mathematik entwickeln, die das Design eines erfolgreichen therapeutischen Stimulationsprotokolls systematisch ermöglicht. Die Software, die die Geräte steuert, ist also zentral.

Jeder Stimulator, der Migräne-Zapper wie der mechanische Vibrator, braucht zunächst ein Stimulationsprotokoll, welches Frequenz, Amplitude, Modulationen, Ruhe- und Aktivphasen und weiteres mehr optimal festlegt. Genau das wird Neuromodulation genannt und ich berichte hier davon. Noch völlig unerforscht sind Stimulatoren, die abhängig von physiologischen Messgrößen nach Bedarf stimulieren, also “closed-loop” Stimulationsparadigma, ähnlich dem Biofeedback nur unter Umgehung der für Patienten aufwendigen Lernphase. Lernen spielt dabei dennoch eine Rolle, nämlich das Verlernen der Migräneaktivität durch das automatische  umprogramieren des Gehirns. Das closed-loop Stimulationsparadigma ist ein immaterieller medizinischer Wirkstoff, der auf die Neuroplastizität des Gehirns einwirkt.

Mich würde es nicht wundern, wenn wir bei der Erforschung dieser Fragen also feststellen, dass es nicht auf die spezifische elektromagnetische Komponente ankommt, sondern nur auf die richtige Neuromodulation, die ebenso mit Licht, Vibration oder akustisch mit einfacher Unterhaltungselektronik – Smartphone und andere Smart-Home-Technologie – umgesetzt werden kann.

Im alten Ägypten verschaffte den Kopfschmerzpatienten nämlich nicht ein Krokodil Linderung. Das Krokodil, so steht es zu lesen im Papyrus Ebers, bestand nämlich aus Lehm und war kein lebendiges Tier; der poröse Lehm wurde vorher wahrscheinlich in Wasser getaucht was Verdunstungskälte produziert. Dieses “Rezept” ist also ein einfaches Protokoll, welches man im Prinzip als einfache Neuromodulation ansehen kann. Es verschafft akute Linderung durch die Kühlung und dem Druckverband (Wenn das Protokoll zudem die genaue Lage des Verbandes vorgibt, können Aspekte der Triggerpunkt-Therapie Teil der Wirkweise sein). Manchmal geht es auch ganz einfach. Heute müssen wir weiterdenken. Wir müssen von der Aktuttherapie hin zur Erforschung neuroplastischer Heilungsmöglichkeiten mit Neuromodulationsprotokollen. Diese Aussicht ist das Neue und die Zukunft der modernen nicht-medikamentösen Behandlungsverfahren.

Nachtrag vom 30.12.2010.

In einer ersten, einfachen medizingeschichtlichen Korpusanalyse mittels dem Google Ngram Viewer stieß ich auf einen Anstieg der Worthäufigkeit von “Migräne” und “Epilepsie” um 1875. Diese Krankheiten werden typischerweise beide auch als Hirngewitter bezeichnet und der Anstieg könnte mit den hier beschrieben neuen therapeutischen Entwicklungen ab 1850 zusammenhängen.

Siehe: Migräne, Epilepsie und Schlaganfall im Google Ngram Viewer

Literatur

[1] P. J. Koehler and C. J. Boes, A history of non-drug treatment in headache, particularly migraine. Brain (2010) 133, 2489-2500.

[2] Jürgen-Peter Stössel, Biofeedback – Entspannung durch Selbstkontrolle. Bild der Wissenschaft, März 1976.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. funktionierte es?

    Warum sind die alten Methoden in Vergessenheit geraten – haben sie nicht funktioniert? Oder war die Sterberate zu hoch – ich denke da an die Badewanne..;-)

    Nein, ernsthaft manches Wissen gerät irgendwie “aus der Mode” und wird Jahrzehnte später wieder entdeckt…

    Grüße

  2. Laienfrage zur MHD bei der MRI

    Bei der transkraniellen Magnetstimulation werden zeitlich schnell veränderliche Magnetfelder verwendet.

    Meine Frage ist nun, ob bei einem in der Zeit konstanten, aber starken Magnetfeld ein magnetohydrodynamischer Effekt auftreten kann.

    Das Blut ist auf Grund der gelösten Elektrolyte gut elektrisch leitfähig.

    Die Strömungsgeschwindigkeit in den Arterien ist relativ hoch.

    Die Gehirnzellen werden schon von relativ niedrigen Spannungen gereizt.

    Warum spürt man dann bei der Magnetresonanztomographie nichts von der magnetohydrodynamisch induzierten Spannung?

  3. 7-Tesla-Kernspintomograph

    Wenn sich ein Proband im stationären Magnetfeld des Kernspintomographen schnell bewegt (also zB schnell zum Scanner hinläuft) kann es schon zu seltsamen Wahrnehmungen kommen. Ich schreibe bewusst “Proband”, denn dieser Effekt ist bei Gräten, die klinischen Bereich eingesetzt werden (1.5-3 Tesla), nicht so stark.

    Als wir in Magdeburg 2002 europaweit den ersten
    7-Tesla-Kernspintomographen bekamen, waren alle gespannt, wie es sich anfühlt. Ich glaube mich zu erinnern, dass ein Kollege von einer metallischen Geschmackswahrnehmung auf der Zunge berichtete, als er man Gerät vorbei lief.

  4. Wissen wird wiederbelebt

    Alex, die Frage wäre was wir bereit sind als “Wissen” anzuerkennen. Die alten Ägypter “wussten” z.B., dass ein Lehm-Krokodil hilft.

    In diesem Zusammenhang will ich das Ende von Artikel [1] zitieren:

    “After a period of relative silence in the 20th century, electricity has recently gained interest again, with new insights into pathophysiology and targets as well as the availability of refined procedures (Goadsby et al., 2010). It is called neuromodulation and includes deep brain stimulation, occipital nerve stimulation and transcranial magnetic stimulation. However, the problem of suggestion, recognized by Möbius at the end of the 19th century, still plays a role and, although better understood today (Diederich and Goetz, 2008), is still not easy to deal with, e.g. with respect to occipital nerve stimulation, where placebo effects are still a matter of concern (Burns et al., 2007) and need to be overcome by sophisticated methodology.”

    Zusammengefasst: Placebo ist ein Problem bei solchen alten “Wissen”.

    Die Arbeit endet dann:

    “Present-day invasive treatments for headache should be considered against the background of the long list of procedures mentioned in this article, especially given that older theories such as the importance of sympathetic dysfunction in migraine (Peroutka, 2004) and electricity (Goadsby et al., 2010) with their inherent methodological problems are revived from time to time.”

    Das also “Wissen” immer mal wiederbelebt wird (und nicht immer neu entsteht). Ich bin selbst gespannt, was aus dieser Forschungsrichtung wird. Es kann zumindest nicht schaden, die alten Klassiker der Elektrophysiologie, wie die Arbeiten von du Bois Reymond, zu kennen.

    Beim Wissen ums Krokodil und Zitteraal, denke ich, geht es mehr um nette Anekdoten.

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