“Bloggewitter”- Gastbeitrag Prof. Dr. Pfeilschifter

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

 

Wenn der Chef unvermittelt im eigenen Büro auftaucht, kann das unangenehme Folgen haben. Viel netter ist es, wenn man ihn als Gast im eigenen Blog hat, da bleibt eine gewisse Sicherheitsdistanz gewahrt. Hier ist eine Rede zum Thema Bologna, die mein Chef kürzlich in Leipzig, bei der Tagung des Medizinischen Fakultätentages, hielt.

Also dann: das Wort gehört dem Herrn links im Bild, dem Dekan des Fachbereichs Medizin der Goethe-Universität Frankfurt/Main, dem gelernten Pharmakologen Prof. Dr. Josef Pfeilschifter. Es folgen der Text und die Bilder seiner Rede.

 

Problematik des gestuften Studiums

Sehr geehrte Herren Vorsitzende,

sehr geehrter Herr Präsident,

Conspectabiles,

meine sehr geehrten Damen und Herrn,

Das, meine Damen und Herren, ist der Leibhaftige, wie wir in Bayern sagen würden. Er stammt aus Bologna, nicht aus der dortigen Universität, aber aus der Kirche San Giovanni gleich daneben. Und – nachdem ich einen, zugegebenermaßen, polemischen Artikel gegen die Bologna-Reform veröffentlicht hatte, in dem dieses Fresko des Teufels eine gewisse Rolle spielte – nachdem ich das getan hatte, wurde ich doch von Seiten eines Protagonisten der Bologna-Reform glatt meinerseits als der "Leibhaftige" bezeichnet.

In gewisser Weise schmeichelt das natürlich, zumal ich den Bologna-Prozess wirklich scheue, wie der Teufel das Weihwasser. Die Metapher ist natürlich krumm. Ich bin nicht der Teufel, ziemlich sicher nicht. Aber der Bologna-Prozess ist andererseits auch ganz BESTIMMT nicht das Weihwasser, das der Teufel scheuen müsste – ich, als Dekan einer medizinischen Fakultät, aber schon. Ich möchte Ihnen im Folgenden – jenseits aller satanischen Rhetorik und in weitestgehender wissenschaftlicher Nüchternheit zu erklären versuchen warum. Gelegentliche satirische Einsprengsel dienen der lediglich der Unterhaltsamkeit und Würze des Vortrages – ich werde sie als solche kenntlich machen.

Bologna, die schöne Stadt selbst, steht stets im Hintergrund der folgenden Folien. Ich werde Ihnen vor dem Hintergrund des Bologna-Prozesses, der mittlerweile in einigen europäischen Ländern auch in der Medizin angekurbelt wurde, im Vordergrund erst einmal die Probleme und die Herausforderungen zusammenfassen, vor denen sich die deutsche Universitätsmedizin sieht. Und dann wollen wir sehen, inwieweit der Bologna-Prozess dabei hilfreich sein kann. Am Ende, so hoffe ich, werden Sie meine Ansicht teilen: er nützt nichts.

Wir werden älter, kränker, vielleicht auch wehleidiger – jedenfalls, so hört man allenthalben aus der Politik und aus dem Volk und aus der Ärzteschaft selbst: wir brauchen mehr Ärzte. Mancherorts, auf dem Land, vor allem im Osten, ist der Ärztemangel schon Wirklichkeit geworden.

Mehr Ärzte bekommt man auf die Schnelle, indem man ausgebildete Kollegen aus dem Ausland herbeiruft. Das wird getan. Mittel- und langfristig müsste man aber hierzulande mehr Ärzte ausbilden, und da kommt die Universitätsmedizin ins Spiel. Bewerber für ein Medizinstudium wären genug da, der Numerus clausus beweist es. Und ich denke, keiner von uns hier hätte Einwände, wenn die Wissenschafts-, Gesundheits- und Finanzbehörden der Republik beschlössen, ein paar neu verschuldete Milliarden in die Stärkung unserer medizinischen Fakultäten zu stecken. Tun sie aber nicht.

Stattdessen wird erwartet, dass der Bologna-Prozess in der Medizin – auf eine wundersame Art und Weise, die mir aber noch keiner der Proponenten erläutern konnte – die Zahl der Absolventen erhöhen werde. Ich frage mich, wie das funktionieren soll. Der Bologna-Prozess zielt in der Tat auf eine Erhöhung der Akademikerquote quer durch die ganze Gesellschaft und quer durch alle Fakultäten.

 

Das Dia zeigt Ihnen, wie das funktionieren soll. Zum einen soll die Abbrecherquote, die in einigen Fächern tatsächlich ärgerlich hoch war, gesenkt werden. Das hat insgesamt in den Fächern, deren Curricula bislang bolognaisiert wurden, NICHT geklappt, wie es in einer HIS-Studie von 2008 nachzulesen ist. Und – jetzt wieder in die Medizin – es KANN im Medizinstudium gar nicht klappen, weil unsere Abbrecherquote lächerlich niedrig ist, de facto die niedrigste aller Fakultäten. So um die 5%. Die Schwundquote gar nur 2%, dank der Zuwanderung deutscher Medizinstudierender aus dem Ausland – beispielhaft sei hier nur Ungarn genannt.

Bleibt noch der Bachelor, der zwar nicht das einzig neue an Bologna, aber immerhin eine der zentralen Innovationen ist. Inwieweit er in den nicht-medizinischen Studiengängen tatsächlich "berufsbefähigend" und "arbeitsmarktrelevant" ist, muss sich noch zeigen. Es gibt bisher keine verlässlichen Daten. Der Bachelor in der Medizin
 

ist nun ein ganz heißes Eisen, mindestens so heiß, wie die Brenneisen, mit denen die Feldscher des Mittelalters Wunden zu heilen versuchten. Das ist, sie merken es, schon wieder ein satirischer Einschub, also gleich wieder weg damit, nüchtern, sachlich – was ist das, der "Bachelor of Medicine"?

Er ist ein Wesen, das 180 ECTS-Punkte gesammelt hat, wobei es erstmal egal ist, wie lange er oder sie dafür gebraucht hat. Diese ECTS-Punkte – "european credit transfer system" – sind eine weitere Bologna-Innovation. Sie entsprechen einer gewissen studentischen "workload", ein Punkt macht 30 Stunden Arbeit. Und damit dieses Punkte-System funktioniert, muss das Studium – viel stärker als bisher – modularisiert werden. Und es muss noch mehr geprüft werden, quasi nach jedem Modul. Fragen Sie die Fachvertreter aus den bereits bolognaisierten Studiengängen, fragen Sie die Studierenden: dort hat es eine Inflation an Prüfungen gegeben. Nun gut, wir sind in der Medizin ja einiges gewohnt.

Lassen Sie uns rechnen. 180 ECTS Punkte a 30 Stunden Arbeit machen 5400 Stunden Arbeit. Ein akademisches Jahr, wenn man es vollpackt, hat 1800 Arbeitsstunden. 5400 durch 1800 macht drei, drei Jahre, sind sechs Semester.

Und damit die Befähigung zu kurativen Taten, zum Arztberuf? Ganz bestimmt nicht, schon aus formaljuristischen Gründen nicht.

 

Denn laut einer verbindlichen EU-Richtlinie und laut der derzeit gültigen Ärztlichen Approbationsordnung hat die Arztausbildung mindestens 6 Jahre, 12 Semester zu umfassen. Wir können also wohl nach sechs Semestern Bachelors machen, aber keine Ärzte nach gültigem nationalem oder internationalem Recht.

Aber wer weiß, Gesetze kann man ja ändern. Man kann sie so ändern, dass nach einem sechssemestrigen Studium ein Bachelor herauskommt, dem tatsächlich das Recht zur kurativen Tat verliehen wird. Womöglich sind solche kurativ geschulten Paramediziner ja wirklich eine Antwort auf die Arztknappheit. Womöglich – doch ich bezweifle es – kann man sie wirklich so ausbilden, dass sie wissen, wo der enge Horizont ihrer kurativen Kompetenz endet, ab wo der Arzt ‘ran muss. Aber ich frage mich ernsthaft: wie wollen Sie DAS den Patienten verkaufen? Nein, ich glaube nicht, dass das wünschenswert wäre.

Ich denke, dass man das auf der politischen Seite mittlerweile auch eingesehen hat und dass man sich – unausgesprochen – vom kurativ tätigen „Bachelor of Medicine“ auch längst verabschiedet hat.

Aber was soll es dann überhaupt? Zur Verringerung der Studienabbrecherquote brauchen wir den „Bachelor of Medicine“ nicht, das führte ich vorhin schon aus, mehr Ärzte erzeugt er nicht, das sagte ich eben. Und wenn man ihn als das vielzitierte "Scharnier" betrachtet, das es erlaubt, den Bachelor-Studiengang mit einem anderen Studiengang zum Master oder zur Promotion zu verzahnen – dann wird es erst recht unsinnig.

Nochmal: wir brauchen mehr ausgebildete Ärzte. Unter der Prämisse, dass die Ausbildungskapazitäten der medizinischen Fakultäten unverändert bleiben, dass keine neuen Studienplätze geschaffen werden – was soll das dann? Für teures Geld 6 Semester lang Ärzte ausbilden, die sich dann entscheiden, lieber einen Master im Investmentbanking zu machen? Oder andersherum: einen Bachelor der Logopädie aufwendig nachschulen, damit er einen „Master of Medicine“ erwerben kann und Arzt werden? Das ist doch ökonomischer Unfug.

Sehen wir uns die weiteren Ziele des Bologna-Prozesses im Lichte des Medizinstudiums an. Mobiler sollten wir werden, sowohl die Studenten als auch die Dozenten, und unsere Abschlüsse sollten europaweit vergleichbar und anerkannt sein. Ich mache es an dieser Stelle wirklich kurz: schon aus dem gerade Gesagten geht hervor, dass wir die europaweite Vergleichbarkeit und die gegenseitige Anerkennung der berufsbefähigenden Arztausbildung längst haben. Deutsche Mediziner arbeiten in Massen in Großbritannien, Skandinavien und in der Schweiz, die Vergleichbarkeit der Abschlüsse ist durch verbindliche Richtlinien längst geregelt.

Was die Mobilität der Dozenten angeht, habe ich keine Daten. Ich kann mir nur meine eigene Vita und die vieler Kollegen, deren Laudationes bei Antritts- und Abschiedsvorlesungen zu halten ich das Vergnügen hatte, vor Augen führen – da ist ordentlich Bewegung drin, manchmal denke ich fast: zuviel.

Was die Mobilität der Studierenden angeht, habe ich sehr wohl Daten, wiederum von der HIS, allerneueste. In einem direkten Vergleich der derzeit noch laufenden Diplom- und Magisterstudiengänge mit den Bachelors und Mastern zeigt sich, dass letztere die IMMOBILSTEN sind. Sie sind an ihre Almae matres genagelt, weil im Zuge der Modularisierung lauter Curricula entwickelt – und akkreditiert! – wurden, die noch nicht einmal innerhalb eines Bundeslandes vergleichbar sind.

 

Der fächerübergreifende Blick zeigt, dass die Medizinstudierenden – gleich nach den Sprach- und Kulturwissenschaftlern – die Mobilsten überhaupt sind. Was also das Ziel angeht, die hohe Mobilität: Die haben wir in der Medizin schon.

 
Schauen wir auf das Medizinstudium. Natürlich besteht Reformbedarf. Es besteht IMMER Reformbedarf. Und ich bin der letzte, der behaupten würde, das Medizinstudium sei in seiner gegenwärtigen Form das Gelbe vom Ei. Nein. Es gibt tausende von Dingen, die man besser machen könnte. Um es speziell in Deutschland besser zu machen, müsste man die unselige Kapazitätsverordnung kippen, die uns zwingt – im europäischen Vergleich – mit halb so vielen Dozenten doppelt soviele Studenten auszubilden. Aber von der Relation zwischen Lehrenden und Lernenden ist im Bologna-Prozess nicht die Rede und irgendeine bindende EU-Verordnung dazu habe ich auch nicht gefunden. Trotzdem — der Bologna-Prozess kann auch als eine Art von "Hebel" verstanden werden, mit dessen Hilfe man fällige Reformen im Medizinstudium – Kapazitätsprobleme mal außen vorlassend – verwirklichen kann. So haben es zum Beispiel die Schweizer gesehen, die ihr Medizincurriculum bolognaisiert haben, so wird es in Holland gesehen, und so sehen es die Kollegen in Hamburg, Berlin und Oldenburg, die Bologna-konforme Studiengänge der Medizin anbieten oder anbieten wollen. Sehen wir uns das ganze mal an.

Nein, die Überschrift ist jetzt KEINE Satire. Die curricularen Modelle, die zur Approbation als Arzt führen, lassen sich wirklich ganz gut als Raketen verschiedener Bauarten darstellen.

Ganz links die Rakete, mit der noch alle von uns hier in die Stratosphäre des Medizinerdaseins aufgestiegen sind, das Curriculum nach der alten Approbationsordung, wie sie bis 2003 gültig war. Es ist eine klassische Mehrstufenrakete, wie die alte Saturn V. Die erste Stufe – mit naturwissenschaftlichem Flüssigantrieb – vermittelte das gesicherte, aber leicht flüchtige, wissenschaftliche Grundlagenwissen. Dann Physikum, Absprengung der ersten Stufe (oft genug leider unter gleichzeitigem Verlust ihrer Wissensinhalte), Zündung der weiteren, klinischen Stufen, Feststoffantrieb, Patientenkontakt, Vermittlung des Handwerkes des Arztes.

In der Mitte die gegenwärtige Approbationsrakete. Die Stufentrennung ist, wie sie sehen, nicht mehr ganz so eindeutig, klinische Inhalte wurden in die Vorklinik verschoben, die zweite Stufe ist ein rechtes Monstrum geworden. mit dem großen Knall – dem M2-Examen – ganz am Ende. Diese Vorverlegung der praktischen Inhalte, die engere Verzahnung von Theorie und Praxis – das ist momentan das erklärte Ziel aller Studienreformen in der Medizin, das ist das, wonach die Studentenschaft lechzt.

Noch einen Schritt weiter auf diesem Weg sind die Schweizer und die Holländer gegangen. Rechts im Bild, das ist keine Mehrstufenrakete mehr, sondern eher so eine Art von Space-Shuttle, in dem der Flüssigantrieb der Theorie sukzessive und unmerklich vom Feststoffantrieb der Praxis abgelöst wird. Das ist – zumindest in den Augen der Studentenschaft, die zum allergrößten Teil eine handfeste Berufsausbildung haben will – die Traumrakete schlechthin. Ich selbst bin ein wenig zögerlich – eine Berufsausbildung ist meiner Ansicht nach etwas für eine Fachhochschule, mir kommen hier die naturwissenschaftlichen Grundlagen zu kurz – aber sei’s drum, ich will im Moment dieses Modell des "integrierten" Studienganges der Medizin gar nicht kritisieren.

Es geht mir nur darum, dass diese offenbar anzustrebenden integrierten Studiengänge nun ganz und gar nicht zur Zweistufigkeit – Bacherlor/Master – des Bologna-Prozesses passen. Der Bachelor – nach sechs Semestern – haut mitten hinein in ein Kontinuum der Ausbildung, ist eine völlig künstliche und sinnlose Zäsur, der Knalleffekt – BOM – wie „Bachelor of Medicine“ einer Stufentrennung, die gar keine ist. In der Tat: die Holländer und die Schweizer verleihen ihren Studierenden diesen Bachelor – nur können die damit nichts anfangen und 98 Prozent von ihnen studieren folgerichtig weiter bis zum Master und zur Approbation.

Was soll das Ganze also? Warum sollen wir, nur um irgendeinem "Spirit of Bologna" mit Titulaturen, nicht aber im Geiste, Rechnung zu tragen, alles schon wieder ummodeln, akkreditieren, reformieren?

Das ist doch unseriöser Aktionismus, ein Aktionismus, der noch nicht mal durch die europäische Angleichung gerechtfertigt wird – denn die Mehrheit der „Bologna-Mitgliedsländer“ hat es ihren medizinischen Fakultäten entweder ausdrücklich UNTERSAGT, auf Bologna umzustellen (19 Länder) oder hat noch gar keine Pläne dazu gemacht (10 Länder).  Nur 7 Länder wollen den Bologna-Prozess in der Medizin umsetzten. Es ist darüber hinaus unseriös, weil wir ja noch nicht einmal wissen, ob und was die Umstellung von der alten Approbationsordnung links auf die neue in der Mitte gebracht hat, von den verschiedenen Reformstudiengängen, die parallel eingerichtet wurden, gar nicht zu reden. Die ersten Jahrgänge aus diesen Studiengängen sind jetzt im Berufsleben – das gehört doch alles evaluiert und verglichen, bevor man sich jetzt hektisch an die Reform der Reform macht.

Die Betroffenen haben der Transformation von guten Absichten, die ich jetzt einfach mal unterstellen will, in schlechte Resultate im Rahmen des Bolognaprozesses zu lange mit stillen Hoffnungen, Gleichgültigkeit oder Sarkasmus begleitet. Mit dem nötigen Selbstbewusstsein sollten wir jetzt aufzeigen was zu tun ist.

 

Ich komme zum Schluss und er wird wie der Auftakt, polemisch und parteiisch sein. Denn ich BIN Partei in dieser Debatte und bitte, meine Partei zu ergreifen.

„Manchmal schmerzt die Wahrheit, aber manchmal muss man auch den Mut haben, sie trotzdem auszusprechen“ damit hat der Präsident  der Bundesärztekammer, Herr Professor Hoppe, am diesjährigen Deutschen Ärztetag das Thema „Verteilungsgerechtigkeit durch Priorisierung – Patientenwohl in Zeiten der Mangelverwaltung" angesprochen. DAS ist eine bedenkenswerte Zustandsbeschreibung der kommenden medizinpolitischen Zustände und der derzeitigen Verantwortlichkeiten in der Bundesrepublik.

 
Die permanenten Schlankheitskuren im Gesundheitswesen finden ihr Spiegelbild im Bildungswesen und werden zur Auszehrung führen – aber man will davon nichts hören. Der Hochschulpakt 2020 wird weitere Discountstudienplätze zur Verfügung stellen, und Forschung und Lehre weiter ausdünnen – aber man will das nicht sehen. Der Bachelor of Medicine wird den Weg in die Zweiklassenmedizin bereiten: Magerkost für die einen, Vollkost für die anderen – das darf man aber nicht laut sagen.

Doch, meine Damen und Herren, – man muss es laut sagen: die derzeitige Politik verjuxt mit milliardenschweren Schuldverschreibungen nicht nur die Zukunft der jungen Leute, die diese Schulden mal abtragen sollen, sie nimmt ihnen durch eine geradezu anorektische Bildungspolitik auch die Möglichkeit, qualifiziert in die Zukunft zu starten.

Mit anderen Worten: die derzeitige Hochschulpolitik macht nicht nur krank, sie ist krank, sie ist verantwortungslos. Ein Kollege aus Leipzig erklärt uns warum; ich zitiere Professor Georg Vobruba aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. März 2009:

"In den vergangenen Jahren wurde die Entdeckung gemacht, dass Hochschulpolitik weitgehend beliebig gestaltet werden kann, ohne dass mit ernsthaftem Widerstand von innerhalb und außerhalb des akademischen Systems zu rechnen ist. Der Grund dafür liegt darin, dass es kaum funktionierende Rückkopplungen zwischen hochschulpolitischer Steuerung einerseits und der Verantwortung für deren Ergebnisse andererseits gibt." 

"Vater, vergib’ ihnen, denn Sie wissen nicht was sie tun", ist man geneigt, das Lukas-Evangelium zu zitieren. Sie wissen es aber sehr genau, denn nicht die Zukunft fürchten sie, von der sie immer reden, sondern nur die Gegenwart ihrer Wiederwahl und die jeweils präsenten Opportunitäten. Und Hochschulpolitik betrifft nun mal kaum wahlrelevante Mehrheiten der Bevölkerung.

Ich selbst bin allerdings ebensowenig der Herrgott, wie ich anfangs der Teufel war — und bin deshalb nicht bereit, zu vergeben und zu vergessen und die Verantwortungslosigkeit nachzusehen.

Denn letztlich tragen WIR, die Hochschulangehörigen selbst die Verantwortung für unser Tun, auch die Verantwortung dafür, dass es uns ermöglicht wird, das zu tun, was wir für richtig halten. Man entgeht dieser Verantwortung nicht, indem man die Verantwortungslosigkeit der Politik einfach zum systemischen Motto der Universität macht.

Man kann seinen Lehrstuhl aufgeben und sich ins Privatleben zurückziehen wie der Kollege Reiser aus Mainz. Das ist honorig, aber nicht wirklich hilfreich. Besser wäre es, wenn wir gemeinsam auf die Barrikaden gingen und den Bologna-Prozess innerhalb und außerhalb der Medizin als das brandmarken würden, was er ist: verantwortungsloser Unsinn.

 

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Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

2 Kommentare

  1. Auf die Barrikaden!

    Ich wære dabei. Wer organisiert die Massen-Demonstrationen? Niemand! Die deutsche Universitæt læsst sich genauso wehrlos zugrunderichten wie der Journalismus… Wenn der gleiche verheerende Unsinn mit Unternehmen geschæhe, wuerden die Lobbyisten In Bruessel und Berlin den Politikern aufs Dach steigen.

  2. Bologna-Unsinn

    Ja! Verantwortungsloser Unsinn! Die Bologna-Propagandisten gefallen sich als “Pioniere im ungesicherten Terrain” (Staatssekretär Husung, Berlin, an der Regionalkonferenz Berlin, 25.5.09) und erhoffen sich Profilierungs-Meriten sowie den Beifall der Politik, der es in erster Linie um die Erhöhung der Akademikeranteils geht. Durch die irreführende Verknüpfung von “Bologna” mit “Reform” (des Medizinstudiums) werden mutwillig vor allem die Studierenden geblendet, deren Elan schlicht mißbraucht wird. Ist das zweistufige B/M-System erst einmal etabliert, stünde einer politisch getriebenen Öffnung des Bachelor-Studiums (das in die berufliche Leere führt) nichts im Wege, eine Befürchtung, welche die Kollegen in Holland bereits umtreibt (Th. J. ten Cate, Utrecht, Regionalkonferenz 25.5., s.o.). Der Politik muß klargemacht werden, daß ein solcher “Ritt über den Bodensee” nicht akzeptiert wird.

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