RMV

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Das folgende hat mit Hirn zu tun.
Besser gesagt: mit dessen Abwesenheit.

Heut' abend wird in Frankfurt mal wieder 'was geboten:

Public lecture: "Consciousness, the phenomenal self, and first-person perspective – Solving the core-problem in consciousness research."
Veranstalter: FIAS
18:00 – 19:30 Uhr; FIAS Hörsaal, Ruth-Moufang-Str.
1 (Campus Riedberg)
Public evening lecture by Prof. Metzinger, Professor of Philosophy at the University of Mainz and FIAS Adjunct Fellow

Und weil ich schwer vergnügungssüchtig bin, möchte ich da gerne hin. Natürlich erwarte ich jede Menge Hirn, schon der Name des Veranstalters steht mir dafür. "FIAS" – das ist das "Frankfurt Institute of Advanced Studies", das ist Prof. Wolf Singers Laden, das ist "Cutting Edge Neuroscience" und zugleich so ein herrliches, altmodisches, geistreiches Akronym: "fias" ist Latein und heisst "Du mögest werden".

Oh, ich mag werden, ich mag an Wissen wachsen und dem Professor Metzinger, der seinerseits einen Ruf wie Donnerhall hat, zuhören. Zu seinen Füssen will ich sitzen, bewundernd zu ihm aufblicken und emsig die Brosamen der Klugheit, die von seinem reichgedeckten Tisch fallen, aufpicken und zu verdauen versuchen, und wenn es mir den Magen verdürbe oder das Hirn in zusätzliche Windungen knotete.

Ich will's versuchen, denn völlig verblödet bin ich ja noch nicht, und die Tatsache, dass ich kein Auto besitze, galt mir bislang stets als Signum meiner geistigen Gesundheit. Aus der Perspektive meines Bewusstseins, meines phänomenalen Selbst(wertgefühles), aus der Perspektive der mir innewohnenden ersten, mithin also auch allerersten und wichtigsten Person – mithin also aus lauter Perspektiven , die ich in Metzingers Vortrag im strahlendsten Lichte der philosophischen Transparenz erläutert zu bekommen hoffe – ääääh, wo war ich? – ach ja, aus all diesen Perspektiven heraus erschien mir ein Auto als ziemlicher Blödsinn. Frankfurt ist klein, ich hab' ein Fahrrad und es gibt den RMV. Das ist, so dacht' ich, schlau.

Tja. Das FIAS, dieser Hort des Hirns, ist vor zwei Jahren auf den Campus Riedberg, vor den Toren der Stadt, gezogen. Und mir will scheinen, dass sie sämtliches Hirn gleich mitgenommen haben. Zumindest das vom RMV (Rhein-Main-Verkehrsverbund). Ich kopier' hier gerade mal die Anfahrtsbeschreibung 'rein:

"Mit der S-Bahn, Linien 1 / 2 / 3 / 4 / 5 /6/ 8 / 9 bis "Hauptwache", dann mit der U-Bahn, Linie 2 bis "Sandelmühle", dann mit dem Bus, Linie 26 bis "Uni Niederurseler Hang" oder ab "Hauptwache" mit der U-Bahn, Linie 3 bis "Niederursel", dann 10 Minuten Fußweg."

Alles klar? Fussweg mag ich nicht und irgendwie muss das Fahrrad an meiner Seite bleiben. Ich brauch' es über's Wochenende daheim. Haben Sie schon mal versucht, Freitags abend gegen fünf mit einem Fahrrad die Frankfurter U-Bahn zu besteigen? Täte man es: es zeugte von einer gewissen Hirnlosigkeit, einer gewissen Überschätzung des phänomenalen Selbst. Denn gross ist die Zahl der einkaufstaschen-behängten, vom eigenen Kommerzwahn genervten Menschen, ansehnlich die Meute der krückstockbewehrten Grossmütter, die den rücksichtslosen Fahrradflegel zur Rush-Hour lautstark ins Lot stellen, bedrohlich die Truppen der kinderwagen-schiebenden Kampfmütter, die unter Hinweis auf die Notwendigkeit des Fortbestandes des Volkes jeden Stellplatz im Abteil mit Klauen, Zähnen, Schnullern und Wehgeschei zähe zu verteidigen wissen. Deshalb darf man zur Rush-Hour nicht mit dem Fahrrad da rein.

Von vorneherein mit dem Fahrrad hinfahren? Sie kennen Frankfurts Nordwesten? Die Schnellstrassentrassen, die sich durch Schrebergartenlabyrinthe fräsen? Die Weglosigkeit des Geländes abseits der mächtigen Magistralen? Die Verzweiflung des Radlers, der – von Bahntrassen und Autobahnen am Fortkommen gehindert – sich orientierungslos im Dickicht der Kleingärten, Sackgassen und Feldwege verheddert? Nicht umsonst heisst einer der Stadtteile dort oben "Heddersheim".

Oje, oje, oje – welcher hirnlose Heini hat sich diese Anbindung des Campus Riedberg an den RMV ausgedacht? Eins ist sicher: er besitzt ein Auto. Ist es doch klug, eines zu haben?

Die Sache hat übrigens Methode. Die Uni Frankfurt hat NOCH einen neuen Campus, ganz wunderschön, fast mitten in der Stadt. "Campus Westend" heisst er. Ich kopier' mal schnell die Anfahrtsbeschreibung hier 'rein:

"Vom Hauptbahnhof mit der S-Bahn, Linien 1 / 2 / 3 / 4 / 5 / 6 / 8 / 9 bis „Hauptwache“, dann mit der U-Bahn, Linien  1 / 2 / 3 bis „Holzhausenstraße“ dann 10 Min. Fußweg oder mit der S-Bahn, Linien 1 / 2 / 3 / 4 / 5 / 6 / 8 bis „Konstabler Wache“ dann mit dem Bus, Linie 36 (Richtung Westbahnhof) bis „Simon-Bolivar-Anlage“.

Alles klar?

Aber vielleicht hat das ja auch Methode. Die Wege, die in's Innere der Weisheit führen, sind verschlungen. Und so ist's vielleicht doch gut für's Image der Uni, dass wenigstens die Wege zu ihr denen zur Weisheit ähneln, selbst wenn es fraglich ist, ob man sie dort dann antrifft.

Ah, jetzt fällt mir noch eine stilvolle Übersetzung des Akronyms "RMV" ein:

RMV – "reprimat mobilitas viatoris"

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

8 Kommentare

  1. Rückkehrfreude 😉

    Da bin ich gespannt auf Ihren Bericht…

    Wird es ein
    RMV = richtig müder Vortrag ?

    oder leiden Sie danach unter einem
    RMV = radikalen Mental-Verschluss ?

    oder gehen Sie mit einer
    RMV = respektablen mentalen Vision
    nach Hause….?

    Viel Spaß und vielen Dank für diese unterhaltsame “Programmankündigung”. Sie betätigen bei mir immer jene Muskelstränge, welche unweigerlich ein lautes, gellendes Geräusch produzieren 😉

  2. RMV und Sprachprobleme

    Sie haben einen Hang zu Nebensächlichkeiten, das bemerke ich als Brainlog-Mitleser hier immer wieder. Ihr Thema war scheint’s nur der RMV aus der Sicht eines Radfahrers.
    Egal, ich wär jedenfalls gern zu dem Vortrag gegangen/gefahren, wenn ich hätte sicher sein können, dass er in deutsch gehalten wird. Andererseits, der Metzinger ist doch Frankfurter, er spricht in Frankfurt, warum sollte er da englisch sprechen? Aber mer waaß ja net.

    Wär aber schön gewesen, wann Sie in Ihrer blumigen Ausführlichkeit einen Satz dazu gesagt hätten.

  3. ach ja, Die Moufang

    Damals im Wintersemester 1966/67 in Frankfurts altehrwürdigen Lorenz-Hörsaal, die Welt wusste noch nicht, dass es einmal die 68er geben werde, das lauschten wir Der Moufang, lineare Algebra (analytische Geometrie) II.
    Prof. Dr. Ruth Moufang, 1936 in Mathematik habilitiert, als Frau von den Nazis an der Lehre gehindert, nach dem Krieg erste Mathematikprofessorin Deutschlands, hatte Hirn, mächtig viel davon.
    Und nun über 40 Jahre später muss Herr Wicht in die nach ihr benannte Straße und verheddert sich in der Geometrie irgendwo zwischen Bockenheim, Eschersheim, Heddernheim und findet womöglich überhaupt nicht wieder heim.

    Analytische Geometrie, das ist jenes geniale Gedankengebäude, mit dessen Hilfe geometrische Aussagen in algebraische übersetzt werden können und umgekehrt. Es mutet dem Erstsemestler das Denken in n-dimensionalen Räumen zu.

    Da bin ich froh, dass Herr Wicht mit seinem Radl auf der flachen Erde bleibt. Man stelle sich vor, der Weg von hier nach da – vom RMV analytisch als algebraische U-Bahn-Zahlenfolge beschrieben – fände nicht in zwei Dimensionen statt, sondern im R^4, was der vierdimensionale reelle Raum ist, oder gar in Einsteins Raum-Zeit-Kontinuum, wer weiss, welche Bewusstseinszustände Prof. Metzinger (der muss da ja auch erst mal hinfinden) in seinem Ich einnehmen würde.

    So bin denn auch ich sehr gespannt auf Herrn Wichs Bericht, so er je wieder zu seinem PC zurückfinden sollte.

  4. Campus Riedberg

    Helmut, zum Glück hast du hier nichts zum Vortrag geschrieben, denn dazu könnte ich mich aufgrund von Befangenheit nicht äußern.

    Ich erinnere mich aber an meine Frankfurter Zeit und den RMV — den ich übrigens mit mehreren Beschwerebriefen traktiert habe. Wenn du einen Ansprechpartner brauchst, kann ich dir ein paar E-Mail-Adressen weiterleiten.

    Ach ja, ich erinnere mich an mein erstes Riedberg-Erlebnis: Ich musste aus Mainz-Mombach(!) anreisen, d.h. schon um ca. 6 Uhr aufbrechen, da der Vortrag von Takao Hensch früh begann. Als ich es dann schließlich zum Riedberg geschafft hatte, stand ich ganz unten, an seinem Fuße und zwar im dichten Nebel.

    Dass es bergauf ging, das hatte ich mir schon gedacht. So stieg ich also durch den Nebel hinauf, um auf der Großbaustelle zu landen, die der Campus damals noch war. Kein Schild zum FIAS, nur ein paar Gebäudeschatten…

    …doch, einen Lichtfleck gab es da und ich dachte mir per abduktivem Schluss, wenn irgendwo gleich ein Vortrag stattfindet, dann müsse es dort ja auch Licht geben. Also ging ich in diese Richtung, um an einem…

    Gewächshaus mit wahrscheinlich transgenen Pflanzen anzukommen!

    Naja, ich hab das Gebäude nach der Methode Versuch und Irrtum dann doch noch gefunden und der Vortrag war sehr gut.

    Viele Grüße

    Stephan

  5. @ Ferdi Schwarz @ alle

    “Sie haben einen Hang zu Nebensächlichkeiten, das bemerke ich als Brainlog-Mitleser hier immer wieder.”

    Oh. Im Zusammenhang mit einer Anmerkung aus der Diskussion eines anderen Themas (Edgar Dahl [“Libertarian”] zu mir: “Sie haben so einen seltsamen Hang zur Metaphysik”) bin ich aber geneigt, das als ein dickes Kompliment zu lesen.

    Das ist ja gerade meine “message”, meist zwischen den Zeilen, nun aber expressis verbis – dass ALLES, die wuselnde Wunderwelt des Mikroskopischen, die banale Blödheit des mesoskopischen Alltages und die eherne Eisheiligkeit des makroskopischen Universums – dass dies ALLES zusammen wahr und Welt sei, und im übrigen nicht aufeinander zu reduzieren. Man müsste es fertig bringen, sozusagen alles gleichzeitig in den Blick zu bekommen, alles für einen Moment im Bewusstsein zu balancieren: dann hätte man, so denke ich, die Welt.

    Weil das aber nicht geht, schreib’ ich halt eine Glosse nach der andern, mal banal, mal “basics”, mal banane…

    In diesem Sinne sollte ich vielleicht – um unser geliebtes hessisches Idion auch als Wissenschaftssprache zu etablieren – mal einen populären Vortrag ausarbeiten:
    “Meddafüssick – Ebbel, Beern odder nur banane?”

    @ alle
    Danke für die freundliche Anteilnahme und die gelungenen Skizzen, die dem Stimmungsbild “RMV/FFM/Riedberg” noch deutlichere Konturen verleihen.

    Ich war dann übrigens NICHT dort (schäm). Ich war in meiner Garage und hab’ die Vorderradbremse von meiner NSU repariert. Bei allem Hang zur Metaphysik: die Ewigkeit möchte ich doch noch für ein Weilchen ausbremsen, das erscheint mir durchaus nicht nebensächlich.

    Mein TÜV-Prüfer sieht das übrigens genauso.

  6. Ceterum censeo RMV esse delendam.

    Sag ich jetzt mal als gequälter Ex-Einwohner und bekennender Frankfurt-Hasser.

    Mir ist bis heute nicht klar, wozu Frankfurt all diese bunten Bahnlinien braucht, die sich auf dem Verkehrsnetzplan ouroborosartig um den Stadtkern winden. Cui bono? Um die Frankfurter Innenstadt kann man mühelos einmal rumlaufen.

  7. Sehr geehrter Herr Wicht,
    sehr schöner Beitrag, habe herzlichst gelacht!
    Aber wäre ein Taxi moralisch nicht vertrettbar gewessen?
    Oder wäre etwa der Aufwand, nur durch ein persöhnliches Gespräch, mit dem Hirnmeisterhirn rechtfertigbar gewesen?

    Gruß Uwe Kauffmann

  8. Odyssee 2010

    @ Helmut @ All

    Köstlich. Eine Odysee. Hätten zu Zeiten König Odysseus seine damaligen Mannen und er den Rückweg von Troja nach Ithaka mit der RMV wählen können , so wären sie wahrscheinlich 10×10 Jahre umhergependelt, bei voraussichtlichen Umstieg in die “direkte” Anschlussfahrt. Oder sie wären beim Warten auf die Bahn eines natürlichen Todes gestorben, beziehungsweise hätten in einem Zustand der Katatonie verharren müssen.

    So alt wie dein Bericht mittlerweile ist, so alt sind auch die Problematiken mit jeglichen Verkehrsbetrieben-/verbunden. Egal zu welcher Zeit du mit der Bahn oder anderen öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren wärst und hier sei nur das eigentliche Mittel zum Zweck gesehen, nämlich das Ziel der Reise auch irgendwann zu erreichen, du hättest in jeder “Versand”-Epoche deine ausserterrestrischen Erfahrungen machen können.

    Ein gewünschter Vortrag, die Jobsuche, die Aufsuchung des Arbeitsplatzes an sich, der Besuch der Uni, um hier nur einige notwendige Ziele zu benennen, verlieren an Bedeutung, wenn man diese mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aufzusuchen versucht.

    Auch heute, Jahre später, hat sich die Situation wenig entspannt. Der Campus Riedberg ist nach wie vor eine Baustelle, gleichsam der Streckenführung zum Ziel selbst. Die Anbindungen sind zahlreich und dennoch wäre ich Stunden unterwegs, so dass jegliche Euphorie auf eine Lesung dort, schlichtweg sprichwörtlich auf der Strecke bleibt.

    Die Verkehrsbetriebe haben sich wahrscheinlich das Leben und die Komplexität der Möglichkeiten dieses zu (ver)leben zu eigen gemacht. Anders kann ich mir beim besten Willen manche Streckenführungen nicht erklären.

    Auch hier habe ich wieder einen passenden Spruch gefunden und schließe mit diesem wie immer meine Ausführung ab.

    “Wir leben in einer Zeit vollkommener Mittel und verworrener Ziele”
    (Albert Einstein)

    Viele liebe Grüße, Querdenker

    PS: Orthografische Fehler dürft ihr gerne behalten !!

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