Glaubensbekenntnis

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Paris, Friedhof Père Lachaise, der "Fleischfresser". Schon in der Metro-Station riecht es ein wenig nach Verwesung, auf dem Friedhof selbst hie und da auch. In der Südwestecke des riesigen, hügeligen Geländes wird der Friedhof zur Nekropole, zur Totenstadt. Dicht an dicht krallen sich marmorne Häuschen, Miniaturausgaben von griechischen Tempeln, etruskischen Tomben und gotischen Schreinen ins abschüssige, feuchte Gelände. Einst waren viele von ihnen begehbar – das heisst, sie waren es nicht, denn die Eingänge zu den kleinen Andachtsräumen, unter deren marmornen Böden die Leiber faulen, waren mit schiedeeisernen Gittern bewehrt. Jetzt aber rosten die Gatter aus den Angeln, man könnte hinein, wären nicht die Böden eingebrochen in die Gräber, in die Hohlräume, die die zerfallenen Körper und Särge hinterliessen. Die Tomben selbst, sie stürzen in Zeitlupe die feuchten Hänge hinab, stehen schief und grosse Spalte klaffen im einst feinverfugten Marmorwerk. Mühsam und in der Gewissheit des Scheiterns stemmt sich die Erinnerung gegen den unerbittlichen, endlosen, ewigen Sog der Schwerkraft. Wie zum Hohn steht auf vielen der verrutschten Steine, die die Rückseite der Tomben bilden: "Concession à perpétuité". "Für alle Ewigkeit gepachtet".

Wenn man nun, ein wenig beklommen, den Père Lachaise nach Westen hin, zum Boulevard du Ménilmontant, verlässt, trifft man an der Ecke auf ein Hotel mit einer etwas heruntergekommenen Bar im Erdgeschoss. Es heisst: "Hotel Bar à la Résurrection". "Hotel zur Wiederauferstehung". Nur hundert Schritte: und der Père Lachaise reisst den ganzen Kosmos zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Witz und Ernst auf.

Ich weigere mich zu glauben, dass jenes System von aberwitzigen Bezügen, von Fakten, Bildern und Assoziationen, die sich gegenseitig ironisieren, kommentieren, die in die dunklen Mahlströme des Absurden und Nichtigen, zugleich aber in die lichten, ruhigen Flüsse heiterer Einsichten münden — ich weigere mich zu glauben, dass dieses System von Eindrücken, die nur dadurch das sind, was sie sind, indem sie sich auf etwas beziehen, was sie ihrerseits nicht sind — ich weigere mich zu glauben, dass diese Mannigfaltigkeit, die mir das Bewusstsein bei der Begehung des Père Lachaise vorstellt, eine neuronale Aktivität meines Hirnes sei. Vielmehr glaube ich, dass diese Mannigfaltigkeit die Wirklichkeit selbst sei. Und meine Hirnvorgänge nur ein weiterer Kommentar, ein weiteres Bild in einer Wirklichkeit, die aus Bildern besteht, die Bilder bebildern und aus Worten über Worte. Kurz: aus Bezügen.

(Ich bitte, die Lyrizismen und die terminologischen Nebelkerzen, die in diesem Beitrag gezündet werden, zu entschuldigen. Es geht mir momentan nicht um "analytische Philosophie" oder "neuronale Bewusstseinsgrundlagen". Es geht mir um die Schilderung einer gewissen, sozusagen "präkritischen" aber dennoch nicht ganz unreflektierten "kognitiven Stimmung", die mein Denken über diese Dinge stets – sozusagen als "Generalbass" – begleitet.)

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

16 Kommentare

  1. Generalbass @ Helmut Wicht

    Mein Generalbaß ist die Langeweile. Mich ödet die Welt an, die nur aus Geburt, Krankheít und Tod zu bestehen scheint. Aber, lieber Herr Wicht: Was soll mir das bedeuten? Kann ich bei dieser Anschauung, die doch nur meine Sicht der Dinge ist stehenbleiben? Oder ist die Geburt nur Zeichen einer inneren Geburt, Krankheit nur Zeichen einer inneren Krankheit, Tod nur Zeichen für den inneren Tod? Schlußendlich also: Was will mir die Welt sagen, worauf muß ich achten?

  2. Die Hauptsache war, dass man lebte.

    “So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôspital militaire. Das braucht man eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst.”

  3. @ Hilsebein

    …ach, Herr Hilsebein, das wissen Sie doch genau so gut wie ich. Die Welt ist, an jedem Schnittpunkt ihrer Breite, Länge, Höhe und Zeit, ein Ort, der schreit: “Ich will nicht sein, aber muss es!” (vide Schopenhauer, Philosoph zu Frankfurt)

    Sie (die Welt) ist der falsche Ort. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen.” (ein Frankfurter Philosoph, nicht Schopenhauer).

    Sie (die Welt) ist ein Scheiss. “Drum besser wär’s, dass nichts bestünde…” (noch ein Frankfurter, recht bekannt).

    (Lokalpatriotismus)
    Frankfurt.
    Die Mitte der Welt.
    Goethe.
    Schopenhauer.
    Adorno.
    Ich.
    Kotz.

  4. @ Wicht: So schwermütig?

    Da hilft nur mein persönlicher Lieblings-Frankfurter:

    Trost im Gedicht

    Denk dir ein Trüffelschwein,
    denk’s wieder weg:
    Wird es auch noch so klein,
    wird nie verschwunden sein,
    bleibt doch ein Fleck.

    Was je ein Mensch gedacht,
    läßt eine Spur.
    Wirkt als verborgne Macht,
    und erst die letzte Nacht
    löscht die Kontur.

    Hat auch der Schein sein Sein
    und seinen Sinn.
    Mußt ihm nur Sein verleihn:
    Denk Dir kein Trüffelschwein,
    denk’s wieder hin.

  5. Nö, Herr Wicht, Nö

    Meine Bemühungen sind etwas anders geartet: ich weiß natürlich um die Gefühle, die ich durchaus auch mein eigen nennen kann. Doch solange ich noch Saft in den Eiern habe will ich schreien: was widerlegt mich?

  6. Let it happen

    I stumbled down a street of shadows
    A black alleluia split the night
    Prostitutes and priests were playing stripjack
    Underneath the cruel lamplight
    I came upon a weeping soldier
    He said “I’m all washed up now, huh”
    But when I glanced across his shoulder
    He held a royal flush

    And whatever needs to happen
    Let it happen, let it be
    Through all I am protected
    Grace is effected
    Over me

    Rilke gibt es übrigens – Triumph der Moderne – auch als ebook vom gutenberg-project:

    http://www.gutenberg.org/dirs/etext00/8malt12.txt

    Ist allemal für Zitate in Blogs unglaublich hilfreich.

  7. @ sparta

    Soso.
    “Grace is effected over you.”
    Deine Vita kennend, bin ich geneigt, das sogar für wahr zu halten. Wir Zerstörbaren hingegen sind – da “grace” im Sinne von “Gnade” uns selten zuteil wird – wir sind gezwungen, die “grace” im Sinne von “Grazie” selbst zu verfertigen.
    Von daher finde ich es schön, dass wir gerade in Lyrische abrutschen.

  8. Was soll widerlegt werden? @ Wicht

    Nun, ich bin der Falsifikation verpflichtet. Ich bin nicht eitel genug, um zu verifizieren. Ich kann deutlich den Willen Schopenhauers in mir wahrnehmen, doch sehe ich in ihm einen Brennstoff, der mich schiebt. Natürlich kann ich mich dazu verleiten lassen, nur eine neue Generation zu zeugen und somit das Rad von Geburt, Krankheit und Tod am Laufen zu halten. Aber die freudsche Sublimierung, die keine Verdrängung ist, ist schließlich auch denkmöglich. Und wenn wir bei Glaubenssätzen sind, so sage ich: ich weigere mich, an die Ziellosigkeit der Evolution zu glauben!

  9. @ all

    Schaurig schön,
    Melancholie feiern, ein Spaziergang am eigenen Trübsinn entlang, eine Sehnsucht nach eigenem und geborgtem Schwarz.
    Die atomare Bedrohung schläft, der Terrorismus
    treibt sich noch unter der Decke herum, die Klimakatastrophe kommt erst noch und gestorben wird eh und vor allem, immer noch wo anders!
    Also lieber mit einem Hundespaziergang den rechten PFC gedopt und weiter im Leben.

    Gruß Uwe Kauffmann

  10. @ Kauffmann

    Sie haben schon recht. In Tibet schiesst man Buddisten tot, die Börse crasht, die Pole schmelzen. Und ich flüchte in melancholische Lyrizismen.

    Es gibt aber AUCH die Flucht in die Faktizität des “Objektiven” oder des “Tatsächlichen” oder des “Naturgesetzlichen”. Zumindest würde ich es dann für eine Flucht halten, wenn nur dem Faktischen Wirklichkeit zugestanden wird.

  11. Adieu Tristesse!

    Um nach all dem gediegenen Weltschmerz noch mal auf den Blog-Post zurück zu kommen: Gibt es irgendeinen triftigen Grund anzunehmen, dass “jenes System von aberwitzigen Bezügen” etcetera pp NICHT “eine neuronale Aktivität (unseres) Gehirns” sei? Außer vielleicht den, dass es uns nicht recht in den Kram passt… Und kann das ein Kriterium sein?! Mir scheint, das Denken, das sich an sich selbst berauscht, neigt sehr dazu, sich zu verklären.

  12. @ Kulpa

    Mea culpa.
    Ich neige zur Melancholie.

    Und wenn Felix Kulpa ein Pseudonym sein sollte, dann ist es gut gewählt. “Sündigt, aber sündigt fröhlich”. Und “peccate fortiter!” sowieso, damit der Herrgott tüchtig was zu vergeben hat, das ist schliesslich sein Job.

    Mea culpa.
    Ich neige auch zum Sarkasmus.

    Freilich gibt’s Argumente.
    1) Die Irreduzibilität des “Qualiums” der Bewusstheit auf’s neurophysiologische “Datum”.
    2) Die Einsicht (siehe “Sing’ er, Singer!”), dass sich Kernelemente des besussten Erlebens nicht IM Gehirn, sondern im “Bedeutungsraum” zwischen Gehirnen manifestieren.

    Erneut “mea culpa melancholica”: ich kann es nicht lassen, anzumerken, dass das Wort “Qualium” das Wesen des Bewusstseins ganz hervorragend erfasst. Da steckt “Qual” drinne.

  13. @ Wicht

    Danke für die Erläuterung! Dennoch halte ich es für durchaus denkbar (im buchstäblichen Sinne), dass sowohl Nicht-Reduzierbarkeit als auch Bedeutungsräume zum fantastischen Repertoire des Illusionstheaters im Kopf zählen. Was ihren Wert aus meiner Sicht keinesfalls schmälert. Aber das mag tatsächlich auch eine Temperamentsfrage sein.

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